Lange: Also kein großer Entwurf, kein großer Wurf. Wo erwarten Sie denn am ehesten eine Einigung? Wo wird man voran kommen?
Biedenkopf: Ich erwarte am ehesten eine Einigung bei den Fragen, die mit der Zuständigkeit von Bund und Ländern zusammenhängen. Ich selbst habe schon vor Jahren auch mit den damaligen Kollegen, Ministerpräsidenten, an Listen gearbeitet, was der Bundesrat nicht mehr machen sollte, was dem Bund vorbehalten bleiben sollte. Da sehe ich am ehesten Möglichkeiten. Schwieriger ist die Frage der Neuordnung der Finanzverfassung. Das hat damit zu tun, dass wir eben arme und reiche Länder haben. Und aus diesem Grund ist man mit der Vorstellung eines Wettbewerbsföderalismus - der ich an sich nahe stehe -, ich will nicht sagen zurückhaltend, aber doch in Schwierigkeiten. Wir haben vier sehr starke Länder und wir haben eine Mehrzahl von Ländern, die finanziell schwach sind. Und da Wettbewerb immer etwas mit Finanzen zu tun hat, ist es sehr schwierig, hier ein vernünftiges Gleichgewicht zu finden.
Lange: Offenbar gibt es ja bisher keinen Konsens darüber, wie viel Wettbewerb, wie viel dann auch an Ungleichheit und an abweichenden Regelungen der Föderalismus verträgt, ohne dass am Ende dieser Bundesstaat auseinander fällt zu einem Staatenbund. Sehen Sie das auch so?
Biedenkopf: Zu einem Staatenbund wird der Bundesstaat nie werden, die Gefahr sehe ich nicht. Aber nehmen Sie nur mal die beiden Reaktionen der beiden großen Sozialpartner - Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände. Die Arbeitgeberverbände sagen, der Föderalismus belaste Staat und Wirtschaft. Man müsse mehr Kompetenzen für die Länder haben. Die Gewerkschaften fordern mehr Kompetenzen für den Bund, und zwar unter dem Gesichtspunkt der gleichen Lebensverhältnisse, nicht der vergleichbaren, sondern der gleichen Lebensverhältnisse. Sie können aber in Deutschland keine gleichen Lebensverhältnisse schaffen, es sei denn, Sie beseitigen die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten der Länder, und das geht nur, in dem Sie einen hochgradigen Zentralismus in Deutschland verwirklichen. Das wiederum will aber niemand. Die Spannungen liegen ja nicht nur zwischen den Ländern, sondern die Spannungen liegen ja auch zwischen den großen gesellschaftlichen Gruppen, die ganz unterschiedliche Vorstellungen von der föderalen Ordnung haben, wie ich eben an zwei Beispielen gezeigt habe.
Lange: Nehmen wir den Wettbewerbsföderalismus mal praktisch. Wenn ich mit meiner Familie von einem Bundesland ins andere umziehe, je nach Himmelsrichtung hat mein Kind entweder große Schwierigkeiten in einer neuen Schule oder weniger. Ist da die Grenze schon erreicht, wie weit das gehen sollte?
Biedenkopf: Die Koordination der Ausbildung gehört nicht zu den schwierigsten Aufgaben. Das kann man machen. Aber trotzdem ist es sehr schwierig. Wir haben zum Beispiel sechs Jahre gebraucht, nach der deutschen Einheit, bis die westdeutschen Länder das zwölfjährige Abitur akzeptiert haben, und wir haben immer noch nicht ein zwölfjähriges Abitur, sondern einige Länder haben 13, andere haben zwölf Jahre. Ich glaube nicht, dass es unbedingt notwendig ist, dass man die Dinge alle anpasst in der Schule. Wir haben in allen föderalen Staaten unterschiedliche Bedingungen in der Schule, sie dürfen nur nicht zu weit auseinander gehen. Die Kinder müssen sich immer, wenn man umzieht, anpassen. Diese Anpassungsfragen sollten nicht übertrieben werden. In der Schule kommt man da zurecht.
Im Hochschulbereich wäre es notwendig, dass man im Grunde auf die bundesstaatliche Regelung von Hochschulfragen verzichtet. Das Beste, was man hier machen könnte, ist das Hochschulrahmengesetz aufzuheben, nicht aber die Mitfinanzierung des Bundes im Bereich von Forschung und Wissenschaft. Darauf sind die Länder, vor allen Dingen die ärmeren, dringend angewiesen. Und so muss man die Dinge einzeln durchgehen. Wie gesagt, die Finanzverfassung ist wahrscheinlich das schwierigste.
Lange: Die Konfliktlage haben Sie vorhin schon so angedeutet. Da stehen nun Ostländer gegen Westländer, arme gegen reiche, Bund gegen Länder, A-Länder gegen B-Länder, Bundestag gegen Bundesrat, Regierung gegen Opposition. Das erinnert alles ein bisschen an die zersplitterte EU von Nizza, die auch keine Reform zustande brachte und einen Konvent brauchte. Wäre uns vielleicht mit einem Konvent eher gedient?
Biedenkopf: Oh Gott, nein. Ich bin eigentlich überrascht, dass man das alles so pessimistisch sieht. In einem großen Land mit ganz unterschiedlichen Regionen, unterschiedlichen Traditionen, unterschiedlichen Einstellungen gibt es immer solche Konflikte. Die Ungeduld, mit der man sie betrachtet, ist verständlich, aber was soll denn die Alternative sein? Wollen wir wieder einen zentralistischen Staat haben? Das will kein Mensch. Wollen wir nur Wettbewerb unter den Ländern? Das will auch kein Mensch. Also muss man einen Mittelweg suchen. Und das Suchen von Mittelwegen ist schwierig. Ich will die Probleme nicht verniedlichen. Es gibt eine ganze Reihe wirklich ärgerlicher Unterschiede, aber sie sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass die schwächeren Länder sich eher an den Bund anlehnen und die reicheren Länder eher sagen, wir können das auch selbst. Es sind Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem horizontalen Finanzausgleich zu bewältigen. Immer wieder geht es um die Frage, wie werden die verschiedenen Aufgaben finanziert. Nehmen Sie ein praktisches Beispiel: Die Gewerkschaften oder auch der Beamtenbund sagen, die Beamten müssen überall im Land gleich bezahlt werden. Es gibt keinerlei Grund dafür, das zu tun. Aber wir haben uns inzwischen so an die Satz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gewöhnt, dass wir meinen, egal wo die Leute tätig sind, sie müssen immer dasselbe bekommen. Das war früher anders. Da bekamen die Beamten ein Grundgehalt und einen Ortszuschlag und in dem Ortszuschlag haben sich die unterschiedlichen Lebensbedingungen in den Regionen des Landes widergespiegelt. Wenn wir nicht die Fähigkeit und die Kraft haben, die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Regionen auch als Unterschiedlichkeit zu akzeptieren, auch was die Einkommen angeht, werden wir solche Fragen nie lösen. Das liegt aber nicht nur an den Ländern. Das liegt auch an den Interessenorganisationen, und zwar gerade an solchen großen wie Beamtenbund oder Gewerkschaften oder anderen, die hier eine Rolle spielen, Schulorganisationen oder was auch immer.
Lange: Mich wundert immer wieder und immer noch, dass eine Neugliederung der Länder von vorne herein von fast allen ausgeschlossen worden ist. Dieser Föderalismus ist doch auch extrem teuer, wenn komplette Regierungs- und Behördenapparate unterhalten werden müssen, wo von der Einwohnerzahl vielleicht ein Oberbürgermeister reichen würde.
Biedenkopf: Das ist eine richtige Betrachtung. Es ist nur nicht ganz unproblematisch oder es ist nicht ganz weltnah, sondern eher weltfremd, das Argument gegen die jetzige Ordnung der Länder, dass das zu teuer sei. Sehen Sie, wenn Sie Thüringer und Sachsen und den südlichen Teil von Sachsen-Anhalt miteinander verbinden wollen, dann bedeutet das, dass die Menschen in den verschiedenen Regionen ihre regionale Identität verlieren oder zumindest stark gefährdet sehen. Gerade diese regionalen Identitäten waren aber in der Zeit der Einheit eine ganz wichtige Grundlage für die Motivation und für die Identität der Menschen, die in eine völlig neue Ordnung geworfen worden sind. Man kann solche historischen Identitäten schlecht mit Finanzargumenten in Frage stellen. Außerdem müssen die Regierungen ja nicht so teuer sein. Wo steht das geschrieben, dass man zum Beispiel in Berlin eine Landesregierung und eine Stadtregierung zugleich braucht? Oder in Hamburg oder in Bremen? Die Landtage können kleiner sein in den mittleren und kleineren Ländern, aber zum Beispiel auch in den größeren.
Lange: Da sehen Sie auf jeden Fall Spielraum?
Biedenkopf: Jede Menge Spielraum.