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Folgen der Brexit-Abstimmung
"Am wahrscheinlichsten ist ein Norwegen-plus-Modell"

Der ehemalige britische EU-Abgeordnete Graham Watson kann sich gut vorstellen, dass sich das britische Unterhaus auf eine Verschiebung des EU-Austritts einigt. Am wahrscheinlichsten sei, dass Großbritannien innerhalb der Zollunion und innerhalb des Binnenmarktes bleibe, sagte Watson im Dlf.

Graham Watson im Gespräch mit Silvia Engels |
Graham Watson auf der jährlichen Konferenz der Alliance of Liberals and Democrats for Europa (ALDE) in Budapest am 20. November 2015.
"Echtes Debakel für Theresa May" - Graham Watson, ehemaliger Vorsitzender der Liberaldemokraten im Europäischen Parlament (picture alliance / EPA / Zoltan Mathe)
Silvia Engels: Theresa May hat es nicht geschafft. Trotz letzter kleiner Ergänzungen hat das britische Unterhaus gestern Abend das von ihr ausgehandelte EU-Austrittsabkommen zum zweiten Mal abgelehnt. – Am Telefon ist Graham Watson. Er ist Brite, er ist ehemaliger Vorsitzender der Liberaldemokraten im Europäischen Parlament und er fand den Austritt Großbritanniens aus der EU noch nie eine gute Idee. Wir erreichen ihn in Straßburg. Guten Morgen, Herr Watson!
Graham Watson: Schönen guten Morgen.
Engels: Wird Theresa May trotz dieser erneuten Niederlage im Amt bleiben?
Watson: Schwierig zu sagen. In Realität kann sie das nicht. Ihre Politik liegt in Scherben und es ist für sie ein echtes Debakel. Kann sie im Amt bleiben? – Man würde sagen, nein. Aber Theresa May ist keine normale Politikerin und man weiß nicht.
Was sicher ist, ist, dass da ihre eigene Partei versucht hat, oder Leute innerhalb ihrer eigenen Partei versucht haben, sie aus dem Amt letztes Jahr zu stoßen, und dass das nicht gelungen ist, kann innerhalb der Konservativen Partei niemand sagen, dann brauchen wir eine neue Chefin. Das heißt, sie hat die Wahl. Sie kann beten, ob sie bleibt oder nicht. Und ich glaube, Theresa May denkt, auch wenn ich da nicht mehr bin, dann löst das überhaupt nichts. Die Probleme sind dieselben. Dann brauchen wir mindestens drei Wochen für einen Führungskontest. Es kann sein, meiner Meinung nach, dass sie versucht, da zu bleiben. Aber eines ist sicher: Sie ist als Premierministerin nicht mehr handlungsfähig, und jetzt muss das Parlament die Kontrolle der britischen Politik wirklich übernehmen.
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"Man kann nicht endlos in dieser Situation bleiben"
Engels: Damit sind wir beim Stichwort, denn das Parlament wird ja weiter abstimmen. Heute steht zunächst das Votum im Unterhaus an über einen Austritt ohne Abkommen, und im Falle, dass das keine Mehrheit findet, folgt morgen dann die Abstimmung über einen Antrag, den Austritt zu verschieben. Mit welchen Beschlüssen rechnen Sie?
Watson: Ich glaube, das Parlament wird heute dafür abstimmen, dass es keinen No Deal geben kann. Das heißt, dass Großbritannien nicht aus der EU treten kann, ohne ein Abkommen. Es wird, ich nehme an, dann einen Brief geben an die EU-Partner, um zu sagen, ja, wir möchten etwas mehr Zeit. Und ich hoffe, dass unsere EU-Partner sagen, ja, sie können mehr Zeit haben, aber nur, wenn sie dafür einen Plan haben. Man kann nicht endlos in dieser Situation bleiben. Das heißt, dann müsste Großbritannien entweder bereit sein, eine zweite Volksabstimmung zu machen, oder zu sagen, ja dann werden wir uns auf einen anderen Plan einigen. Was vielleicht am wahrscheinlichsten aussieht, ist, dass es eine Mehrheit im Parlament für ein Norwegen-plus-Modell gibt. Das heißt, Großbritannien wird innerhalb der Zollunion bleiben und vielleicht auch innerhalb des Binnenmarktes.
Engels: Das, was Sie gerade ansprechen, der dauerhafte Verbleib in der Zollunion, ist ja etwas, was Labour in Form von Jeremy Corbyn schon längst fordert. Das heißt aber, politisch betrachtet: Nur wenn Theresa May sich ganz auf die Linie von Labour und anderen Oppositionellen begibt und dafür große Teile ihrer eigenen kritischen Partei, der Konservativen zurücklässt, könnte das kommen. Glauben Sie, dass Theresa May soweit ist, ihre eigene Partei dafür zu spalten, auch zu opfern?
Watson: Ich weiß nicht, ob sie in dieser Lage die Wahl hat. Ihre Partei ist schon gesplittert. Sie hat gestern nicht nur keine Unterstützung von ihrem Koalitionspartner gehabt, sondern auch 75 Abgeordnete ihrer eigenen Konservativen Partei haben sich gegen ihre Premierministerin gewandt. Diese Partei in der Tat existiert nicht mehr. Das heißt, es könnte vielleicht eine Mehrheit für die Pläne der Labour-Partei geben. Es gibt viele Mitglieder der Labour-Partei, die sagen, ja, so was könnten wir vielleicht tun, aber dann nur mit einer Bedingung. Das heißt, dann müsste dieser Plan dem britischen Volk präsentiert werden, dass das Volk durch eine Volksabstimmung Ja dazu sagt. Ich glaube, es könnte in wenigen Monaten dazu kommen.
Es ist nicht unmöglich, dass wir in der EU bleiben, aber es gibt viele – leider, meiner Meinung nach -, die das nicht wollen. Und man muss auch sagen: Innerhalb des Volkes gibt es keine klare Unterstützung dafür, Mitglied der EU zu bleiben, durch ein zweites Referendum.
"Einen Schaden wird es sicher geben"
Engels: Da kommen wir genau zu dieser Variante noch mal, ein zweites Referendum. Das wäre ja in der Tat dann die Möglichkeit, wenn Theresa May nicht so stark auf Labour zugehen will: dieser Ausblick auf das zweite Referendum. Was tun, wenn am Ende doch wieder dasselbe Ergebnis, nämlich "bitte austreten" dabei herauskäme?
Watson: Ja, das wäre meiner Meinung nach noch schlimmer als die Lage, wo wir uns im Moment befinden. Aber alle Meinungsumfragen zeigen dazu, dass es jetzt eine kleine Mehrheit gibt für einen Verbleib. Das könnten vielleicht auch 60 Prozent sein. Meiner Meinung nach wäre das die beste Lage für Großbritannien. Das heißt, wenn wir austreten, dann wird es Schaden geben – vielleicht nicht in einem Norwegen-plus-Modell für Nordirland, aber sicher für die britische Wirtschaft. Wir werden Arbeitsplätze verlieren, wir werden weniger Investitionen bekommen von außerhalb der Europäischen Union. Auch wenn man im Binnenmarkt bleibt, ist das nicht so gut, wie Mitglied zu sein. Aber ich muss zugeben, dass meine Landsleute nicht dieser Meinung sind, oder sie scheinen, nicht dieser Meinung zu sein.
Nicht unmöglich, an Europawahl teilzunehmen
Engels: Ein zweites Referendum oder auch Neuwahlen, das hat ja eines gemeinsam: Dafür wäre es nämlich nötig, den Austritt Großbritanniens länger als zwei Monate aufzuschieben. Aber da wollen ja auch viele Europäer nicht mitmachen, viele EU-Politiker, weil man dann ja auch gezwungen wäre, aus britischer Sicht, am EU-Parlament und den Wahlen im Mai teilzunehmen, und das wollen nicht nur viele Briten nicht; das will auch zum Beispiel der EVP-Spitzenkandidat Weber nicht. Machen die Briten hier nicht auch Pläne, ohne mal zu schauen, was eigentlich in der EU noch durchsetzbar ist, gerade auch beim Stichwort zweites Referendum?
Watson: Leider ist es so und es ist in den letzten zwei Jahren auch so gewesen. Es gibt keinen großen Respekt, könnte man sagen, in Großbritannien für die EU in diesem Moment und für ihre EU-Partner, und ich bedauere das. Aber ich glaube, am größten ist die Gefahr, dass Großbritannien aus der EU tritt ohne Abkommen, und ich bin froh, dass es im Unterhaus mindestens eine große Mehrheit gibt, die sagen, nein, wir müssen ein Abkommen mit unseren Partnern finden, und deshalb können wir mindestens respektvoll weitergehen.
Wir sind in einer sehr, sehr schwierigen Periode. Ich glaube, es könnte dazu kommen, und es gibt auch eine große Unterstützung, muss ich sagen, unserer jungen Leute, dass wir eine zweite Volksabstimmung machen und dass es irgendwie dann zu einem klareren Ergebnis kommt. Das heißt, dass Leute sagen, ja, Norwegen plus geht, oder dass die Leute sagen, ja, wir haben entschieden, wir bleiben in der EU. Aber für eine Teilnahme an den europäischen Parlamentswahlen gibt es keine Mehrheit. Es wäre meiner Meinung nach nicht möglich, wenn Herr Juncker und die anderen EU-Partner sagen, ja, sie können eine Verlängerung der Frist haben, aber nur auf der Bedingung, dass sie teilnehmen. Dann könnte Großbritannien das machen. Wir werden sowieso lokale Wahlen in England im Mai machen und es wäre nicht unmöglich, dass wir noch mal an einer solchen Wahl teilnehmen. Aber man würde sagen, wozu!
Engels: Wir brauchen hier einen Punkt, weil das nächste Programm folgt. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.