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Folgen eines Brexits
"Europa ist noch nicht nachhaltig aufgestellt"

Wähler in Großbritannien wüssten ihren eigenen Wohlstand nicht genügend zu schätzen und sorgten sich über irrelevante Sachen, sagte Denis Snower, der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, im DLF. Europa habe es gleichwohl mit einem grundlegenden Problem zu tun und brauche neue Visionen, so Snower.

Denis Snower im Gespräch mit Birgid Becker | 23.06.2016
    Ein beleuchteter "In or Out"-Schriftzug vor einem Haus.
    Installation im britischen Hangleton nahe Brighton im Süden Englands vor dem Referendum zum Verbleib Großbritanniens in der EU. (GLYN KIRK / AFP)
    Das Interview in voller Länge:
    Birgid Becker: Mitgehört hat Denis Snower, der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Guten Tag.
    Denis Snower: Guten Tag.
    Becker: Ist es übertrieben, wenn gesagt wird, die Briten stellen in diesen Stunden die Weichen für den gesamten Kontinent?
    Snower: Das ist überhaupt nicht übertrieben. Hier geht es um viel mehr als die Zugehörigkeit Großbritanniens. Wenn Großbritannien austritt, dann ist das eine Gefahr für die europäische Integration und es könnte zu einem Dominoeffekt führen, außer der wirtschaftlichen Schlagkraft und der politischen Schlagkraft der EU, die auch zurückgehen würde.
    Becker: Der Dominoeffekt, der viel befürchtete, wie sähe der konkret aus?
    Snower: Ich glaube, die Stimmen des Populismus der Abschottung würden stärker und viele Personen, die unzufrieden sind innerhalb Europas, würden sich gerechtfertigt finden, die Stimmen lauter zu machen, und daher würden Spannungen entstehen. Neokonservative Kräfte würden stärker werden und auch innerhalb des Landes, denken wir an Spanien, Katalonien, würden große Spannungen entstehen, und wie das ausgeht, ist eigentlich schwer vorhersehbar.
    Becker: Auch wenn die Umfragen im Moment ja eher in Richtung Bremain zeigen, also in Richtung Verbleib in der EU, versuchen wir uns trotzdem weiter ein bisschen an diesem Szenario: Was wäre, wenn der Brexit doch kommt? Es gibt ja eine weitgehende Übereinstimmung in der Einschätzung, die Briten träfe es mehr. Ist das auch Ihre Meinung?
    "Im Bruttoinlandsprodukt würde es Europa gewaltig spüren"
    Snower: Das auf jeden Fall. Aber Großbritannien ist ein wichtiger Teil Europas, wirtschaftlich, politisch und militärisch, und daher würde es Europa auch treffen. Auch im Bruttoinlandsprodukt würde Europa es gewaltig spüren und bezüglich der Finanzmärkte würde es eine große Umschichtung der Ströme geben. Gemeinsame Probleme wie Sicherheit, Terrorismus, Kriminalität oder Klimawandel, Finanzreform würden schwerer zu meistern sein, weil da braucht es eine gemeinsame Sicht der verschiedenen Länder Europas.
    Becker: Wir werden gleich im Verlauf der Sendung einen Blick auf verschiedene Branchen werfen, Autos, Energieversorgung, Banken in Deutschland, die alle betroffen wären von einem Votum pro Brexit. Die Brexit-Befürworter führen dann ja immer an, dass man ja leben könne mit der EU wie etwa Norweger und Schweizer das tun. Taugen die beiden Länder als Vorbild?
    Snower: Sie taugen schwer als Vorbild. Aber außerdem braucht Großbritannien unbedingt den Zugang zum europäischen Binnenmarkt, wie natürlich Norwegen und die Schweiz es auch tun. Und wenn es sich diesen Zugang sichern will, dann muss es die ganzen regulatorischen Rahmenbedingungen akzeptieren. Es muss Beiträge zum EU-Budget liefern, die ungefähr so hoch sind wie die jetzigen, und es muss zustimmen zur freien Bewegung von Menschen. Mit anderen Worten: All das, was die Brexit-Befürworter fürchten, müssten sie annehmen. Sonst wäre das Selbstmord wirtschaftlich. Und sie hätten keine Chance, diese Regeln, denen sie folgen müssten, selbst zu beeinflussen.
    "Unsicherheit ist ein Gift für die Wirtschaft"
    Becker: Wobei ja, wenn es zu einem Scheidungsprozess zwischen der EU und den Briten käme, das ja ein längerer Prozess wäre. Es wäre nichts, was abrupt geschehen würde.
    Snower: Genau. Das wäre ein längerer Prozess. Man hat sich zwei Jahre genommen, aber es würde in der Praxis viel länger dauern. Und inzwischen gäbe es große Unsicherheit und Unsicherheit ist ein Gift für die Wirtschaft.
    Becker: Wenn Sie sagen, für die Wirtschaft, welche Bereiche in Großbritannien wären das? Wir neigen ja immer dazu, den Fokus auf die Londoner City, auf die Finanzwelt zu legen, aber das wird ja nicht der einzige Punkt sein.
    Snower: Nein, das ist nicht der einzige Punkt. Ich glaube, die Finanzwelt würde ganz bestimmt leiden. Aber das Wichtige daran ist, dass die ganze Wirtschaftspolitik und politische Einstellung innerhalb Großbritanniens und Europas sich ändern würde. Deutschland zum Beispiel braucht einen Verbündeten innerhalb der EU, der die freie Marktwirtschaft so schätzt wie Großbritannien. Das ist nicht Gang und gebe in anderen Ländern. In Europa gibt es die soziale Marktwirtschaft. Der Markt wurde gut ausgebaut, das Soziale ist etwas zurückgeblieben und wie wir damit umgehen, dass die Marktwirtschaft zukünftig nicht zu kurz kommt und wir dennoch das Soziale ausbauen, dazu ist Großbritannien notwendig.
    Becker: Nun wird ja seit Wochenbeginn an den Finanzmärkten ein deutlicher Optimismus an den Tag gelegt, dass die Briten an Bord bleiben. Die Aktien-Indizes steigen, das Pfund ist heute in der Relation zum Dollar auf ein Sechs-Monats-Hoch gestiegen. Wieviel an Zuverlässigkeit oder Aussagekraft messen Sie den Finanzmärkten bei? Taugen die für Prognosen?
    Snower: Ich glaube, es sagt etwas aus, was auch außerhalb der Finanzmärkte zu spüren ist, dass man sich begründete Hoffnungen macht, dass Großbritannien in der EU bleibt. Ich glaube, unabhängig davon wird es eine Grundsatzdebatte geben über die Zukunft Europas, welche Vision bringen wir in diese Zukunft, wie gewähren wir einen sozialen Zusammenhalt, und in diese Diskussion werden wir auf jeden Fall treten, auf die müssen wir uns gefasst machen.
    "Die Märkte werden abrupt sinken"
    Becker: Und noch mal praktisch gedacht: Es war ja eben im Beitrag aus London zu hören, Hedgefonds sollen Sonderschichten schieben, um im Zeitraum bis zur offiziellen Bekanntgabe der Entscheidung noch auf den Devisenmärkten spekulieren zu können. Was erwarten Sie für die britische Währung, wenn die Entscheidung pro Brexit fällt?
    Snower: Dann wird das Pfund natürlich fallen und die Märkte werden abrupt sinken, und das zeigt, was diejenigen, die was von Wirtschaft verstehen, vom Brexit halten. Wir sind in einer wirklich merkwürdigen Zeit, in der viele Wähler in Großbritannien einfach ihren eigenen Wohlstand nicht genügend schätzen und sich über irrelevante Sachen Sorgen machen, die sie sowieso akzeptieren müssen. Aus diesem Problem rauszukommen, brauchen wir mehr Verständnis zwischen europäischen Ländern.
    Becker: Morgen am frühen Vormittag wissen wir das Ergebnis. Und falls es so kommt, dass die Mehrheit der Briten gegen den Brexit entscheidet, also pro Europa, reicht es dann, wenn Europa mal schnell aufatmet und zur Tagesordnung übergeht? Wahrscheinlich nicht.
    Snower: Ganz bestimmt nicht! Ich glaube, jetzt hat sich die Geschichte auf jeden Fall geändert. Auch wenn Großbritannien in Europa bleibt, sind wir uns im Klaren, dass wir es mit einem grundlegenden Problem zu tun haben. Wir haben mehrere Krisen jetzt überstanden, aber die zeigten nur, dass Europa noch nicht nachhaltig aufgestellt ist, und daher brauchen wir neue Möglichkeiten, neue Visionen, die es Menschen erlauben, nicht nur ihre eigenen nationalen und kulturellen Identitäten weiterzuverfolgen, aber auch eine europäische Gemeinsamkeit zu verspüren, und das bedeutet, dass wir viel setzen müssen auf gemeinsame Bildung, gemeinsame Arbeitsmarktpolitik, kulturellen Austausch und so weiter, sodass Personen innerhalb Europas sich näherkommen, viel Verständnis für die Gemeinsamkeiten haben und auch Toleranz natürlich für die unterschiedlichen Sichtweisen.
    Becker: Ganz kurz zum Schluss: Wie gehen Sie selbst vor, wenn es keinen Brexit gibt? Aufatmen oder doch mal kurz anstoßen?
    Snower: Nein! Ich glaube, dann muss man ganz stark anstoßen, weil jetzt heißt es, ein neues Europa zu schaffen.
    Becker: Danke! - Denis Snower war das, der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.