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Folter steht nicht in der Anklageschrift

In der Türkei beginnt der Prozess gegen den ehemaligen Putschistenführer Kenan Evren - doch angeklagt ist der Ex-General nur wegen des gewaltsamen Umsturzes 1980. Die systematische Anwendung von Folter stehe in dem Verfahren nicht zur Debatte, beklagen Opferverbände.

Von Gunnar Köhne | 04.04.2012
    Die Istanbuler Straßenverkehrsbehörde ist ein grauer Kasten, dem man ansieht, dass er aus den 1970er-Jahren stammt. Damals befand sich darin noch das Polizeipräsidium des Istanbuler Stadtteils Gayrettepe. Einsatzwagen der Verkehrspolizei parken vor dem Eingang. Mit einigem Abstand beobachtet Nimet Tanrikulu die Szene. Sie zieht die Augen zusammen und holt tief Luft. Es ist über 31 Jahre her. Die Angestellte war damals 19 Jahre alt und eine linke Studentenaktivistin, als sie nach der Machtübernahme der Militärs am 12. September 1980 hierher gebracht wurde:

    "Die Polizisten haben mir die Haare ausgerissen – die sind seitdem nie wieder richtig nachgewachsen -, und sie haben mir Stromstöße gegeben und sich immer wieder auf mich drauf gesetzt und gefragt, ob ich noch Jungfrau sei."

    Als die bellende Stimme von General Kenan Evren am Morgen des 12. September 1980 im Radio zu hören war, wusste Nimet Tanrikulu, dass sie und ihre Genossen in Gefahr waren.

    Alle Parteien und Gewerkschaften wurden mit sofortiger Wirkung verboten, das Parlament aufgelöst. Mehr als 650.000 Menschen wurden inhaftiert, die meisten von ihnen auch gefoltert. Nach offiziellen Angaben starben 171 Menschen an den Folgen der Misshandlungen. Zehntausende flohen ins Ausland.

    "Fünf Jahre saß ich in Haft, solange dauerte auch der Prozess gegen mich wegen 'revolutionärer Umtriebe'. Über meine Folter durfte ich dem Richter nichts erzählen. Und auch in den Jahren danach interessierte sich kaum jemand für das, was wir damals durchgemacht haben," erzählt Tanrikulu.

    1982 ließ Evren, inzwischen Staatspräsident, über eine Verfassung abstimmen, in der die lebenslange Immunität der Putschisten garantiert wurde. Dieser Paragraf wurde im August 2010 nach einer Verfassungsreform wieder gestrichen – daraufhin begannen die Ermittlungen gegen Evren.

    Doch angeklagt ist der Ex-General allein wegen "gewaltsamen Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung". Das greift zu kurz, findet die Vertreterin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Istanbul, Emma Sinclair-Webb:

    "In der Anklageschrift finden sich zahlreiche, sehr konkrete Aussagen und Belege für die systematische Anwendung von Folter – darum sollten sich die Generäle auch für diese massiven Menschenrechtsverletzungen, vielleicht sogar für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten."

    Auch der Verband der Opfer des Septemberputsches, in dem sich Nimet Tanrikulu engagiert, hat das Verfahren scharf kritisiert. Sie fordert, dass nicht nur der greise Evren, sondern alle Verantwortlichen für die Verbrechen von damals zur Rechenschaft gezogen werden:

    "Es gab ja auch noch Polizeichefs, es gab Richter und Staatsanwälte, die willkürlich verurteilten und es gab die Unternehmerverbände, die den Putsch begrüßten."

    Immerhin: Die Machtverhältnisse haben sich mittlerweile verschoben. Umstürzlerische Aktivitäten der Armee werden heutzutage sofort geahndet. Derzeit sitzen Dutzende hohe Offiziere wegen angeblicher Putschpläne aus dem Jahre 2004 im Gefängnis, das Ganze ist als Ergenekon-Affäre bekannt. Doch der Politologe Cengiz Aktar warnt, die Macht des Militärs in der Türkei sei nicht gebrochen:

    "Die Türkei ist von einer mentalen Demilitarisierung noch weit entfernt. Das Militär spielt im Alltag immer noch eine große Rolle – daran ändert auch der Prozess gegen die Putschisten nichts. Und vergessen Sie nicht, dass das Militär insofern immer noch einen Sonderstatus genießt, als es in diesem Jahr umgerechnet sieben Milliarden Euro als Militärbudget überwiesen bekommt, ohne über die Verwendung der Gelder Rechenschaft ablegen zu müssen."
    Doch wenigstens für einen Teil der von ihnen begangenen Verbrechen muss sich die türkische Armee mit dem heutigen Prozessauftakt verantworten. Ein wenig Gerechtigkeit für Nimet Tanrikulu und die unzähligen anderen Opfer des Septemberputsches vor 31 Jahren.