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“For Seasons” in der Elbphilharmonie
So klingt der Klimawandel

Heute zwitschern 15 Prozent weniger Vögel in den Bäumen als zu Zeiten des Komponisten Antonio Vivaldi. Extremwetter haben hingegen stark zugenommen. Auf Basis wissenschaftlicher Daten sind Vivaldis "Vier Jahreszeiten" nun bearbeitet und in der Hamburger Elbphilharmonie uraufgeführt worden.

Von Dagmar Penzlin | 18.11.2019
    Ein Orchester steht vor einem Transparent, auf dem zu lesen ist "We've heard all about climate change, now it's time to listen"
    Die Jahreszeiten haben sich verschoben - diese Veränderung fließt in die neue Version von Vivaldis berühmter Komposition ein (NDR Press and PR / Peter Hundert)
    Am Ende sind wir endgültig in der Gegenwart angekommen: Während die Sologeige weiter ihren Part von Antonio Vivaldis Violinkonzert "Der Winter" verfolgt, versinkt das Orchestertutti in dissonante Lethargie. Was wie eine Metapher wirkt – der Mensch lebt weiter wie bisher, während die Natur durch den menschengemachten Klimawandel im Chaos versinkt.
    Bedrohliche Veränderung der Jahreszeiten
    Dieses bestürzend gruselige Klangbild ist nicht das Ergebnis allein von künstlerischer Kreativität, sondern entspringt einem Algorithmus, der auf Klimadaten basiert. So haben die Arrangeure von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" auch den Anstieg des Treibhausgases Kohlendioxid in den vergangenen Jahrhunderten bis heute einfließen lassen: Je höher die globale CO2-Kurve steigt, desto mehr verlängern sich die Noten, bis eben im "Winter"-Konzert clusterartige Klangflächen die ursprüngliche Architektur der Komposition attackieren. Zumal hier im Orchesterpart - anders als bei Vivaldi - auch verstärkt Holz- und Blechbläser spielen. Simone Candotto, Solo-Posaunist im NDR Elbphilharmonie Orchester, hat dieses Arrangement vorgenommen, das gerade den CO2-Anstieg klanglich betont und noch bedrohlicher macht.
    "Das ist schon eine große Sache, weil das hat, ich denke, eine Wirkung. Vor allem aber auch die Themen aus den anderen Jahreszeiten, die so unmerklich reinkommen. Das gibt schon den Eindruck, es ist nicht mehr so wie früher."
    Die Daten zeigen: Die Jahreszeiten haben sich verschoben – entsprechend verkürzen, vermischen und verlängern sich Motive oder ganze Sätze aus Vivaldis Original. Informatik-Spezialisten des Berliner Sounddesign-Studios Kling Klang Klong haben Vivaldis "Vier Jahreszeiten" bearbeitet, indem sie für ihren Algorithmus klimatische Datenreihen auf die Notenwerte der Partitur "gemappt" haben, erzählt Fernando Knof von Kling Klang Klong.
    "Die Partitur wurde digitalisiert und daraus haben wir dann in Form von Midi-Noten, also digitalen Noten, diese dann in ein Programm reingejagt, das zählte die Noten und hat sie dann eigenständig gelöscht entsprechend unserer Vorgaben."
    Klimatische Datenreihen als Basis
    Konkrete Ergebnisse des ökologischen Wandels flossen also ein. So zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass es 15 Prozent weniger Vögel gibt als zurzeit von Vivaldi. Entsprechend löschte der Algorithmus 15 Prozent der Vogelmotive in der Partitur. Auch das Insektensterben mit einem Rückgang von 77 Prozent verändert das Klangbild insbesondere von Vivaldis Violinkonzert "Der Sommer". Der Algorithmus wird dabei jeweils spezifisch auf lautmalerische Motive angewandt, ebenso wirkt er zyklusübergreifend, was zu verschiedensten Effekten führt: von ausdünnend bis verdichtend etwa mit Blick auf die Zunahme von Extremwetter-Ereignissen und Temperatur-Anomalien. So kommen Unwetter-Klänge und -Motive aus Vivaldis "Sommer" verstärkt zum Einsatz.
    "Wir haben Spiegelungen, wir haben Passagen, die abgeschnitten sind. Also Frühling, der erste Satz, zum Beispiel ist 15 Takte länger, das Ritornell wird überholt. Der Winter ist abgeschnitten – da fehlen einfach am Schluss die Takte. Wir haben Unwetterpassagen, die wir aus dem Sommer entnommen haben, über die ganze Partitur verteilt. Das hat das Programm entschieden. Wir haben 84 Extremwetter, die haben wir umgemünzt in 84 Takte. So wurden entsprechend Parts aus dem Sommerwetter über das ganze Stück verteilt."
    Posaunist und Arrangeur Simone Candotto bekam die algorithmisch bearbeitete Partitur und stand vor der Aufgabe, die neue Version von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" zu instrumentieren. Um den verstörenden Charakter des Klangbildes zu verstärken, kommen eben auch Blechbläser dazu; wer denkt nicht beim Klang von Posaunen ans Jüngste Gericht – Stichwort: Dies irae? Für Candotto ging es zunächst aber um grundsätzliche Fragen:
    "Wo Bläser dazu kommen? Aber welche Bläser erst einmal? Flöte, Klarinette zum Beispiel, dann auch Trompeten und Posaunen, auch Pauke. Und dann haben wir geguckt, wo passt. Da spielen die Instrumente etwa dazu."
    Orchester will klimaneutraler arbeiten
    Candotto und seine Orchesterkollegen haben die Arbeit an der Uraufführung der Klimawandel-Version von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" ehrenamtlich absolviert, unterstützt von Chefdirigent Alan Gilbert, der das per Internet-Stream übertragene Zusatzkonzert leitete; Zugang zum großen Saal der Elbphilharmonie hatten allein die Gewinner einer Verlosungsaktion. Das Foto für den Trailer zum sehr kurzfristig veröffentlichten Konzert zeigt Gilbert und ein paar Orchestermusiker als Klima-Demonstranten.
    Das alles ist Ausdruck einer hinter den Kulissen laufenden Diskussion, wie das NDR Elbphilharmonie Orchester zukünftig klimaneutraler seiner Arbeit nachgehen kann. Dies berichtete Gilbert direkt nach der Uraufführung. Auf dem Prüfstand stünden die Organisation von Konzertreisen, ebenso der Druck von Programmheften. Vor allem sei das Konzert aber ein Statement gewesen – mit der Kraft der Musik. Es solle auch eine Art Mission werden, zu tun, was man tun könne. Und wenn am Ende des Tages alle – Orchester wie Individuen – dies täten, würde es ein Unterschied sein.
    "We are saying something that people have been saying for a long time: We think that the climate is a problem and we would like to do something about it. That’s not new! But to say it in this way with the power of music behind it, it is my hope personally that this will make a difference. It’s a statement, it’s a first step. We are making it a mission for us as an orchestra and as individuals to make a difference. And that’s what matters: For each of us to do our little part. And if we all do something we can make a difference."
    Dazu passt: Vivaldis vier Violinkonzerte heißen in der Klimawandel-Fassung nicht mehr "Four seasons" – also "Vier Jahreszeiten", sondern "For seasons" – "Für die Jahreszeiten". Die Partitur des klingenden Statements ist nach Angaben von Gilbert für alle Interessierten zugänglich – auch für eigene Konzerte. Und auch das NDR Elbphilharmonie Orchester plant weitere Aufführungen.