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Forschung
Die Einsprachigkeit der Wissenschaft

Forschung ist international, die englische Sprache Standard. Aber bedroht die Einsprachigkeit möglicherweise die Forschungsqualität? Gerade in den Sozialwissenschaften spiegelt die Sprache auch oft die Denkweise der Gesellschaft - viele Forscher halten die eigene Sprache deshalb für kaum ersetzbar.

Von Bettina Mittelstraß | 12.02.2015
    Eine Studentin sucht am 07.11.2012 ein Buch in der Bibliothek der Universität Hildesheim.
    Englische Literatur, deutsche Gedanken: Die Wahl der richtigen Sprache ist für Wissenschaftler häufig eine schwierige. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Es war einmal: Latein: "Ausgehend von der römischen Antike hat sich ja das Lateinische im Römischen Reich als Verkehrssprache ausgebreitet, zunächst durch das Römische Reich selbst verbreitet, aber auch nach dem Ende dieses Imperiums als Verwaltungs- und Kirchensprache und später Universitätssprache erhalten."
    Denn Latein war damals die einzige entwickelte Sprache, in der ein komplexer wissenschaftlicher Zusammenhang ausgedrückt werden konnte, erklärt der Historiker Jens Boysen vom Deutschen Historischen Institut in Warschau.
    "Und dadurch ist das moderne oder mittelalterliche Hochschulwesen auf dieser Sprache aufgebaut worden, und hat dadurch auch die Kommunikation international sozusagen ermöglicht. Das war natürlich keine Sprache des einfachen Volkes. Aber wenn man sich auf die Wissenschaft jetzt fokussiert, dann kann man sagen, dass es ein Vorbild ist."
    Ein Vorbild heute für Englisch als einheitliche Wissenschaftssprache, damit Forscher über die Sprach-Grenzen hinaus in Kontakt treten können.
    "Das Englische kommt immer dann ins Spiel, wenn der Kreis der Diskutanten größer ist. Wenn eine gemeinsame Sprache sonst nicht vorhanden ist, dann ist das sehr nützlich! Die Primärforschung, die wir betreiben in dem jeweiligen Zielland – ob das in meinem Fall Polen ist oder meinetwegen Frankreich –, wird doch immer in der Landessprache stattfinden müssen, weil die meisten Quellen in dieser Sprache verfasst sind. Jedenfalls nicht auf Englisch."
    Einheitssprache für Kommunikation ja – Einheitssprache für Erkenntnis nunja: Geistes- und Sozialwissenschaftler kommen ohne Mehrsprachigkeit nicht aus, solange die Geschichten der verschiedenen Kulturen dieser Erde aus vielsprachigen Quellen erzählt und das moderne Zusammenleben der Menschen erforscht werden.
    Gisela Trommsdorff ist Professorin an der Universität Konstanz. Sie beschäftigt sich mit der Entwicklung des Menschen im sozialen Kontext und vergleicht sie in verschiedenen Kulturen. Mit Englisch allein käme sie zu keinen befriedigenden Erkenntnissen, sagt die Psychologin. Völlig ungeeignet ist eine Einheitssprache zum Beispiel, wenn man Emotionen untersucht. Es gibt Sprachen mit 450 Begriffen für Gefühle. Andere haben gerade mal 5, sagt Gisela Trommsdorff. Ein Beispiel:
    "Mein Hund hat mich "bestorben". Das ist ein Beispiel, eine wörtliche Übersetzung aus dem Japanischen. Die betreffende Person will darlegen, dass sie traurig ist, dass der Hund gestorben ist. Also eine andere grammatikalische Ausdrucksweise. Und ich bin sozusagen die betroffene Person, fühle mit dem Hund mit, bin sehr traurig. Aber ich sage nicht "ich bin traurig."
    Deutsch forschen, englisch publizieren?
    Ohne in die verschiedenen Sprachen einzutauchen, kann man Ausdrucksweisen und Verhalten im kulturellen Kontext nicht verstehen – und ohne die Einsicht in die sprachlich verankerten Unterschiede funktioniert dann eben auch die Verständigung zwischen den Kulturen nicht. Die Einheitssprache bringt hier für den internationalen Dialog keine Vorteile.
    "Dazu können wir mit der englischen Sprache nicht sehr viel weiter kommen, wenn wir uns nur darauf verlassen, dass da all diese Termini verfügbar sind, die üblicherweise eben in der englischsprachigen Kommunikation verwendet werden, um Prozesse, die im Westen üblich sind, zu analysieren."
    Aber auch Geistes- und Sozialwissenschaftler müssen, wie ihre Kollegen aus den Naturwissenschaften, Ergebnisse längst in wichtigen englischsprachigen Journalen publizieren. Sonst können sie eine Karriere – international, aber auch an den Hochschulen ihrer Heimatländer – eigentlich vergessen. Was tun? Erkenntnisse übersetzen oder gleich auf Englisch denken und schreiben? Im letzten Fall ginge Reichtum verloren, sagt der Sprachwissenschaftler Professor Jürgen Trabant von der Freien Universität Berlin. Einigen sich die Forscher auf Englisch, magern die anderen Sprachen ab.
    "Wenn die Wissenschaft wegfällt, wird die Sprache weniger prestigereich. Und damit sinkt ja ihr – die Linguisten nennen das – ‚sinkt ihr Status in der Sprachgemeinschaft'. Und es bedeutet dann auch zweitens, dass der Ausbau sich reduziert. Also ich kann dann eben über Wissenschaftliches nicht mehr in meiner Sprache sprechen, sondern ich kann über Physik nur noch auf Englisch sprechen zum Beispiel. Das heißt, das Deutsche tut das nicht mehr, es wird also ärmer und wird sozusagen immer weiter reduziert auf ein Sprechen im Haus."
    Macht nichts, mag man denken – dafür verständigt man sich jetzt eben weltweit über Physik oder Biologie. In den Laboren der Naturwissenschaftler ist Englisch willkommener Standard. Aber so einfach ist das nicht. Erkenntnis ist oder bleibt an Sprache gebunden – selbst wenn man in den Naturwissenschaften weltweit einheitliche Formelsprachen hat, muss man diese Formeln sprachlich interpretieren. Und es sei eben nicht egal, wie man das macht, sagt Jürgen Trabant:
    "Es ging seit der Antike drum, die Wahrheit zu erforschen. Und dabei hat Platon entdeckt, dass zwischen der Wahrheit und dem Menschen die Sprache steht. Und dass diese Sprache kein wirkliches und richtiges Abbild von der Realität ist, sondern dass sie Mängel hat. Nicht, das Ziel war, richtige, echte Bilder zu haben von der Welt - und das war Sprache nicht. Und er schlägt dann zum Schluss des Kratylos – das ist der Sprachdialog – vor: Ja, dann wäre es vielleicht ganz schön, wenn wir gar keine Sprache hätten. Also wenn wir uns den Dingen direkt nähern könnten. Also er lässt das offen, ob das überhaupt möglich ist. Aber es gibt diesen Zweifel von vorne herein in Europa an der Sprache."
    Wie weit ist der Horizont?
    Die Debatte um die Sprachen muss schon deshalb in den Wissenschaften erhalten bleiben. Und besonders wenn Universitäten und Hochschulen heute permanent nach "Internationalisierung" rufen, muss diskutiert werden, was das eigentlich heißt. Bedeutet "alles auf Englisch" wirklich "Internationalität"? Jens Boysen:
    "Der Begriff suggeriert ja eigentlich eine Erweiterung des Horizonts durch Reisen, durch Kontakte, durch Wissenschaftskontakte - wobei das Englische ein ganz wichtiges Hilfsmittel ist. Wenn allerdings der Trend dahin gehen sollte, in der Hochschulausbildung und in anderen Kontexten nur noch die englische Sprache zu verwenden, dann wäre das natürlich eine Reduktion und dann würde es bedeuten, dass die Welt eben anglisiert wird."
    Sind dann Hochschulen, an denen mehrere andere Sprachen gesprochen werden, etwa nicht "international"? – Das wäre rein begrifflich ein Unsinn. Gerade an den Hochschulen braucht es ein Konzept der Mehrsprachigkeit, sagt Jürgen Trabant.
    "Daran müssen wir arbeiten. Das müssen wir mit solchen Diskussionen ausdiskutieren, vor allem auch deswegen noch einmal, weil es wichtig ist dann für die Erziehungsinstitutionen. Wir müssen wissen, was wir in der Schule tun sollen. Wir können nicht einfach irgendeinen Studiengang auf Englisch jetzt etablieren, weil irgendeinem Universitätspräsidenten das gefällt. Sondern wir müssen wissen, was es heißt, eine Sprache zu sprechen. Der Universitätspräsident muss wissen, es ist gar nicht so einfach, Englisch zu sprechen, zu lehren, sondern das muss der Lehrer ja können! Die Schüler müssen das auch können usw."
    Weltsprache "Globalesisch"
    Und so muss man auch darüber diskutieren, was das allgemeine "Globalesisch" – also das global gesprochene Englisch, das Muttersprachlern aus Großbritannien oder den USA schon mal Ohrenschmerzen verursacht – was dieses "Globalesisch" eigentlich kann.
    "Der Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass auch durch diesen Prozess und diese Ausbreitung das Englische selbst sich verändert - vielleicht einfacher wird im Umgang oder auch Elemente anderer Sprachen aufnimmt. Das ist der Preis für diese weite Verbreitung und dafür gibt es eben historische Vorbilder. Das Griechische und Lateinische, die ähnliche Rollen gespielt haben, wurden auch entsprechend verändert. Das muss nicht unbedingt ein negativer Prozess sein. Wenn er dazu führt, dass wirklich eine breitere Kommunikation möglich wird, ist das sicher gut."
    "Der Begriff ist natürlich ein polemischer Begriff. Das ist klar. Er zeigt, dass diese Sprache, diese internationale Verkehrssprache auch eigentlich jetzt nicht unbedingt mehr mit Amerika oder Großbritannien zu tun hat, sondern dass dieses eine Sprache für den Globus ist. Und das heißt auch: Diese Sprache hat eigentlich keine Heimat. Oder vielleicht sollte sie auch keine Heimat mehr haben! Das ist eigentlich ein Vorteil, dass sie keine Heimat mehr hat. Ich brauche keine "Native Speakers" mehr, sondern diese Sprache ist auch meine Sprache, wenn ich für die Welt sprechen möchte und deswegen kann ich dann auch einigermaßen frei über dieselbe verfügen."
    Globalesisch also als Verkehrssprache für Jedermann – und das müssen dann auch Briten und Amerikaner tolerieren. Wissenschaftliches Arbeiten und Erkenntnis aber in vielen Sprachen: unter anderem auch in Wissenschaftsenglisch.
    "Bei uns geht es speziell darum, dass in der Wissenschaft, wie wir bisher jedenfalls meinen, auch ein hoher qualitativer Standard bewahrt sein oder bleiben muss. Die Frage ist, ob das eine globale Diskursgemeinschaft eigentlich kann."