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Forschung
Verflochtene Umbrüche in West- und Ostdeutschland

Von Andrea Westhoff |
    Viele Arbeiten zur deutsch-deutschen Geschichte gehen immer noch davon aus, dass beide Staaten sich getrennt voneinander entwickelt haben und dann 1990 die DDR in die Bundesrepublik eingegangen ist. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam dagegen betrachtet die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche seit den 1970er-Jahren als gemeinsame Vorgeschichte des wiedervereinigten Deutschlands, sagt der Direktor, Professor Frank Bösch:
    "Wir gehen davon aus, dass es vielfältige Verflechtungen, Beziehungen, Interaktionen über die Mauer hinweg gab, und Anfang der 90er-Jahre nicht nur die DDR sich verändert hat, sondern gleichzeitig auch die Bundesrepublik. Insofern haben wir eine doppelte Transformation, die wir verflochtenen Umbruch nennen."
    Das bedeutet allerdings nicht, dass die historische Entwicklung beider Staaten gleichmäßig verlaufen wäre:
    "Die Verflechtungen, die Beziehungen zwischen Ost und West waren meist asymmetrisch. Das heißt. Insbesondere die DDR schaute fortlaufend auf die Bundesrepublik, während in der Bundesrepublik die DDR zunehmend an Bedeutung verlor. Das galt aber nicht für alle Bereiche: Es gibt Felder, in denen die DDR einen besonders starken Eindruck auf Westdeutschland machte. Zum Beispiel im Feld des Sportes, wo sehr genau hingeguckt wurde, wie die Olympiakader ausgebildet wurden und entsprechende Ausbildungsstätten auch im Westen entstanden."
    Insofern bemühten sich die Historiker auf der Potsdamer Tagung, für jeden Themenbereich genau herauszustellen, in welche Richtung die Transfers und Interaktionen liefen, oder wo beide deutsche Staaten sich nebeneinander her entwickelt haben.
    Starke Verflechtungen gab es im Bereich Politik: Einerseits verfestigten sich beide Systeme, andererseits fand ein intensiver Annäherungsprozess seit den 70er-Jahren statt, vor allem durch die Entspannungspolitik von Willy Brandt. Das wirkte sich wiederum auf die Beziehungen im politischen Alltag aus:
    "Beziehungen zwischen den neuen sozialen Bewegungen und der Opposition in der DDR. Etwa bei der Friedensbewegung, die in den 70er-/80er-Jahren ganz wirkmächtig wird; bei den Kirchen, die sich politisch einmischen, zunächst auch im Westen, Anfang der 80er-Jahre, aber zeitgleich auch im Osten. Es gibt eine innere Abkehr von der SED, die sich in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre besonders deutlich ausmachen lässt, als erstmals die Mitgliederzahlen nicht mehr gesteigert werden können. Und diese Abkehr von traditionellen Organisationen finden wir auch im Westen. Und das Fernsehen hatte eine ganz, ganz wesentliche Funktion für die Politisierung, aber auch für die Proteste 1989."
    Bei der Mediennutzung zeichnete sich nach der Wiedervereinigung ein besonders interessanter Umbruch ab. Diesen Bereich hat Professor Frank Bösch am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ebenfalls untersucht:
    "Vor 1989 nutzten die Ostdeutschen vor allem die politischen Medienangebote im Westen, während sie bei Unterhaltungsangeboten eher auf die eigenen Medien zurückgriffen. Und nach 1989, seit der Wiedervereinigung zeigen sich ganz markante Unterschiede in der Nutzung: Die Ostdeutschen nutzen kaum die politischen Medienangebote, lesen kaum den "Spiegel", die "Süddeutsche", "FAZ", sondern schauen viel häufiger Privatfernsehen, nutzen Unterhaltungsangebote und nutzen vor allen Dingen Medien, die eine eigene ostdeutsche Identität anbieten."
    Kaum verflochten dagegen verlief die Entwicklung in der Arbeitswelt, betont Professor Rüdiger Hachtmann, der an der TU Berlin und in Potsdam zu diesem Thema forscht. Die gewaltigen Umbrüche in der Industrie, vor allem Rationalisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse, seien im Osten auch versucht worden, aber nicht gelungen:
    "Das Element des sozialen Drucks fehlte. Also wichtig ist die Angst vor Entlassung, weil sonst die Bereitschaft, sich dem Produktionsregime anzupassen, nur sehr begrenzt ist. Und in der DDR und überhaupt im Ostblock kam zusätzlich noch hinzu: die begrenzten Möglichkeiten, Modernisierungsinvestitionen zu tätigen. Die Maschinen waren häufig ausgesprochen veraltet. Es gab außerdem ja noch die Computerisierung oder Digitalisierung, die im Westen sich in den 70er-/80er-Jahren enorm ausweitet. Die auch im Osten einzuführen, das ist trotz einiger Anstrengung letztendlich gescheitert."
    Hier, im Bereich der deutsch-deutschen Arbeits- und Industrieentwicklung also doch eher die klassische Sieger-Verlierer-Geschichte:
    "Man kann eigentlich relativ deutlich formulieren, dass das westdeutsche System dem Osten übergestülpt wurde, soweit nicht der Osten, das ist ja auch ein fundamentales Problem, deindustrialisiert wurde zu erheblichen Teilen."
    Tatsächlich verflochtene Umbrüche gab es dagegen im Bereich Ökologie, per se ja ein grenzenloses Thema. Der Umwelthistoriker Dr. Frank Uekötter, derzeit an der Universität Birmingham:
    "Im Grunde ist die Umweltgeschichte die Geschichte einer paradoxen Verkehrung: In der Bundesrepublik haben wir die Entwicklung von einer weitgehend ökologisch unregulierten Wirtschaft hin zu einer ziemlich ambitionierten Umweltpolitik Ende der 80er-Jahre, und das genaue Gegenteil haben wir in der DDR. Da fängt das alles mit einer staatlichen Planung an, die auch sehr stark Umweltplanung ist, bis hin zu dem, was wir in den späten 80er-Jahren dann sehen, ein völliges Laissez-.Faire, auch mit großen Umweltschäden, wenn es denn nur irgendwie Devisen bringt."
    "Ökologischen Raubtierkapitalismus im Osten", nennt Uekötter das, und Bitterfeld als negatives Paradebeispiel. Das aber sei nur ein Teil der deutsch-deutschen Umweltgeschichte.
    "Bis in die 70er-Jahre ist eigentlich der Eindruck insgesamt einer Parallelentwicklung. Dass wir in beiden Ländern Reformpolitiken haben, auch mit erstaunlich ähnlichen Motiven, dann entwickelt sich das auseinander. Und wenn die Wiedervereinigung sagen wir mal 1980 gekommen wäre, dann wäre diese Kritik der DDR ganz sicher überhaupt nicht so ökologisch konturiert gewesen."
    Ohne den Blick auf die längerfristigen historischen Verflechtungen erscheint der Untergang der DDR als Rettung der Umwelt und die alte Bundesrepublik als grünes Musterland, so Frank Uekötter. Und dass das politische Thema Ökologie so einen schweren Stand in den neuen Bundesländern habe, sei auch eine Folge der "Arroganz der westdeutschen Umweltbewegung":
    "die 1989/90 doch mit dem Selbstbewusstsein "wir wissen, was das richtige Grün ist" gen Osten schwappte und dabei übersah, dass es in Ostdeutschland auch Traditionen gab, an die man hätte anknüpfen können."
    Ein letztes Beispiel für die verflochtenen Umbrüche als Merkmal einer deutsch-deutschen Geschichtsschreibung ist schließlich das Thema Bildung: Dazu stellte der Historiker und Bildungsforscher Dr. Wilfried Rudloff von der Universität Kassel seine Überlegungen auf der Potsdamer Tagung vor:
    "In den 60er-Jahren fällt auf, dass die Bildungsentwicklung in der DDR durchaus ein Stachel im Fleisch der deutschen Bildungspolitiker ist, weil sie in der Bildungsexpansion und auch in der Chancengleichheit einen gewissen Vorsprung zu haben scheint. Und das wird von einer Minderheit von Bildungspolitikern durchaus wahrgenommen und genutzt, um die bundesrepublikanische Seite anzuspornen, im Bereich der Bildungspolitik zuzulegen."
    Ab den 70er-Jahren gab es dann eher eine negative Verflechtung über das Kampfthema Gesamtschule:
    "Hier muss jeder, der ein Interesse daran hat, die Gesamtschule zu fördern, tunlichst vermeiden, irgendeinen Eindruck zu erwecken, es würde sich um eine Kopie der Einheitsschule handeln. Sondern er muss die Beispiele Schwedens oder Englands oder der USA in den Vordergrund rücken. In dem Moment, wo der Eindruck entsteht, hier wird etwas aus der DDR kopiert, ist das Thema quasi politisch vom Tisch."
    Nach 1989/90 entstanden in Ostdeutschland zwar neue, stark am Westen orientierte Bildungsministerien. Aber selbst in den CDU-regierten Ländern wurde das System der alten Bundesrepublik nicht komplett übernommen,
    "sondern schon früh erkannt, dass die Zusammenführung von Hauptschule und Realschule in einem neuen Schultypus, und auf der anderen Seite Gymnasium, dass dem Modell möglicherweise die Zukunft gehört. Und da spielen zwei Dinge eine Rolle: zum einen der dramatische demografische Einbruch nach 1990. Und auf der andere Seite eben die gestiegenen Bildungserwartungen in der Bevölkerung."
    Und in vielen alten Bundesländern erfolge inzwischen auch eine Reform des dreigliedrigen Schulsystems – eine nachholende Modernisierung, diesmal von Ost nach West.