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Frankfurter Buchmesse 2018
Zwischen Schnapskirschen und selbstverständlichen Glatzen

Die Jugend in der DDR, alte Freundschaften und die Entstehung von Gewalt: Schriftstellerin, Journalistin und Liedermacherin Manja Präkels beleuchtet in ihren Arbeiten die Veränderungen in Ostdeutschland nach dem Mauerfall.

Manja Präkels im Gespräch mit Ute Wegmann | 13.10.2018
    Manja Präkels im Gespräch mit Ute Wegmann auf der DLF-Buchmessenbühne
    Manja Präkels im Gespräch mit Ute Wegmann auf der DLF-Buchmessenbühne (Deutschlandradio / David Kohlruss)
    Heimlich gemeinsam Schnapskirschen essen, das gehört zur Kindheit. Und dann fällt die Mauer und das Leben ändert sich: Arbeitslosigkeit und Resignation breiten sich aus, vor allem aber werden Glatzen mit Selbstverständlichkeit getragen und Andersdenkende brutal bedroht. Die in Ostdeutschland aufgewachsene Schriftstellerin, Journalistin und Liedermacherin Manja Präkels über die Entstehung von Gewalt und den Umgang mit alten Freundschaften.
    Shantie
    Wann kommt das Raumschiff?
    segelt umher
    über den Köpfen
    kennt nicht das Meer
    In Karawanen
    könnten wir fliehn
    mit Himmelszelten
    ins Nirgendwo ziehn
    Wann kommt das Raumschiff
    trägt uns hinfort
    in ferne Fernen
    an keinen Ort
    trägt uns zu Sternen
    die nicht vergehnin deren Kernen
    die Träume entstehn
    Wann kommt das Raumschiff
    wer wird es sehn
    wen nimmt es mit und
    wen lässt es stehn
    trägt uns zu Planeten
    von Affen bewohnt
    die Mehrheit bezweifelt
    dass sich das lohnt
    Manja Präkels (Gesang) und Florian Segelke (Gitarre)
    Text: Manja Präkels
    Die neuen Helden
    Ute Wegmann: Aus Halle 3 auf der Internationalen Buchmesse in Frankfurt begrüßt Sie Ute Wegmann. Und Sie hörten bereits meinen Gast: Sängerin, Journalistin, Lyrikerin und Schriftstellerin Manja Präkels mit dem Lied Shantie, ganz herzlich willkommen und ich begrüße ebenso herzlich den Gitarristen Florian Segelke.
    Manja Präkels - geboren 1974 in Zehdenick, das liegt nördlich von Berlin, studierte Philosophie und Soziologie. Sie war Lokalreporterin in Brandenburg zu einer Zeit - 1999, als es vermehrt zu rechtsradikalen Übergriffen unter Jugendlichen kam. Sie, Manja Präkels, haben Interviews geführt. Ihre Gespräche führten zu einer ZDF-Reportage in der Reihe 37 Grad mit dem ursprünglichen Titel: "Die Zecken von Zehdenick". Dieser Titel durfte dann nicht verwendet werden, sondern wurde zu "Abgestempelt". Auch in Ihrem Roman "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß", in dem es vor allem um rechtsmotivierte Gewalt geht, werden einige Übergriffe aufgeführt.
    Ein Nachbar wird für eine "Zecke" gehalten und mit Messer angegriffen. Ein Kellner wird auf dem Heimweg nach der Spätschicht mit Bierflaschen vergewaltigt, als "Scheißschwuchtel" bezeichnet. Er erstattet keine Anzeige, weil er Angst hat, den Job zu verlieren.
    Menschen werden zum Zeitvertreib von einer Zugbrücke in die Havel geworfen. (Seite 137)
    "Wir waren Mädchen mit kurzen und Jungs mit langen Haaren, die sich vor Symbolen ekelten, die Stiefel fürchteten. Sie, die Helden der neuen Zeit, entschieden darüber, wer Zecke war und wer nicht." (S.138)
    Manja Präkels, in Ihrem Heimatort herrschte eine Atmosphäre der Gewalt und der Angst. Steht Zehdenick exemplarisch für die Situation um die Jahrtausendwende in den Kleinstädten des Ostens?
    Manja Präkels: Ja, das kann man so sagen. Ich toure seit etwa einem Jahr mit dem Buch in allen möglichen Provinzen – Ost wie West – und bekomme bestätigt, dass das für ganz viele Orte gilt. Übrigens nicht nur für Ostprovinzen, da galt es vor allem in den frühen Neunzigern, das ähnelt sich schon sehr, was nach dem Systemzusammenbruch der DDR geschah, aber auch in Westprovinzen und leider auch in großer Kontinuität bis heute. In Wellen scheint es territorial Übergriffe zu geben und das Land nicht in Ruhe zu lassen.
    Wegmann: Sie schreiben in Ihrem Roman: "Aus der Ausnahmesituation war Alltag geworden. Glatzköpfe schlenderten mit ihren Freundinnen zur Eisdiele." (Seite 178)
    Fast zwanzig Jahre später kommt Ihr Roman, mit dem Sie gerade sehr erfolgreich unterwegs sind. Brauchten Sie diese Zeit, um Worte zu finden?
    Präkels: Ja, ganz sicher. Ich hätte mir schon gewünscht, dass ich nicht so lange an dem Buch arbeite. Aber es ist auch ein Schmerzbuch, ein Angstbuch, an dem ich auch zu kauen hatte. Es gab ein paar Schlüsselszenen, wo ich ganz sicher den Abstand der vielen Jahre brauchte, um das für mich und fürs Publikum aushaltbar zu schildern.
    Wegmann: Sie haben bereits mehrere Bücher herausgegeben, zum Beispiel die Anthologie "Vorsicht Volk!" Eine Auseinandersetzung mit den Bewegungen aus dem Volk heraus, zum Beispiel Pegida. Sie sind außerdem Sängerin der Band Der Singende Tresen, das ist nicht nur ein Zusammenschluss musizierender Menschen, sondern Sie nennen sich Gedankenmanufaktur. Wort & Ton. Sie gestalten neben den Bandauftritten Live-Programme zu Erich Mühsam, Hilde Domin, Mascha Kaleko.
    Präkels: Grundsätzlich muss man noch einen erwähnen, meinen Mann Markus Liske, wir sind ein Kollektiv kann man sagen. Mit ihm betreibe ich vor allem die Gedankenmanufaktur Wort & Ton. Als wir uns kennenlernten, vor nunmehr 17 Jahren, war relativ schnell klar, dass wir miteinander arbeiten wollen. Er Westdeutscher, ich Ostdeutsche, wir haben uns interessant ausgetauscht, eine männliche, eine weibliche, eine westdeutsche, eine ostdeutsche Perspektive, daraus haben sich interessante Gespräche ergeben. Und wir sind leidenschaftliche Literaturfans.
    Der Dichter Erich Mühsam als Fixstern
    Wegmann: Nun hatte ich Erich Mühsam erwähnt. Erich Mühsam, Antimilitarist, Anarchist, Lyriker, Antifaschist. Geboren 1878 in Berlin, ein Kämpfer für Freiheit, Gerechtigkeit und Kultur. Politischer Aktivist im Umfeld der Ausrufung der Münchner Räterepublik 1919. Gestorben 1934 im KZ Oranienburg. Sie haben 2014 zusammen mit dem Bremer Schriftsteller Markus Liske ein Lesebuch herausgegeben mit dem Titel: "Das seid ihr Hunde wert!" Gedichte, Texte und Tagebucheinträge von Mühsam, eine großartige, umfangreiche Zusammenstellung seiner Texte.
    Aber bereits im Jahr 2001 starteten Sie in Berlin das Erich-Mühsam-Fest, das auch mal kurzzeitig pausierte. Was für eine Art Festival war oder ist das Erich Mühsam Fest?
    Präkels: Es ist aus einem Zusammenschluss von Exil-Brandenburgern entstanden. Für uns, die wir auf dem flachen Land lebten, wo wenig Kultur stattfand, wir sind in die Stadt Berlin geflohen. Und Mühsam schwebte wie ein guter Geist über allem. Es gibt auch eine räumliche Nähe, Oranienburg, das KZ, in dem er von den Nazis ermordet wurde, ist nicht weit weg von meiner Heimatstadt. Über die Gedenkstätte wusste ich schon einiges über Mühsam. Und gerade in den frühen Neunzigern, als die Welten zerflogen, als alles um uns herum tobte, man in einem Strudel von Gewalt und sozialem Elend zu ertrinken drohte, waren vor allem seine Tagebücher wie ein Leuchtstern, an dem man sich festhalten konnte, denn er gibt ja auch Auskunft darüber, wie man in schlechten Zeiten durchkommt, wie man Haltung bewahrt und wie Literatur und Kunst helfen können. Insofern, er ist unser Fixstern.
    Wegmann: Sie machen ernste Musik. "Ernste Musik", so lautet auch der Titel eines Albums Ihrer Band. Das zweite Lied, das wir hören, heißt:
    Rastlos
    War die ganze Nacht zu Dir gelaufen
    die Äcker links und rechts, sie schliefen kalt
    es gab nur diese Richtung und kein Halt
    hieß mich verweilen oder nur verschnaufen
    Die wilden Schweine mit den Hackenschuhen
    marschierten klick klack klick an meiner Seit´
    frostig-klar, der Himmel lag so weit
    die Schritte reichten, rastlos ohne Ruhen
    Orte ließen kalt uns scheinen
    war vereist und krumm die Welt
    Der schwere Mantel hielt die Winde fern
    von meiner Haut, die sehnte sich so sehr
    nach einer Hand und lief ihr hinterher
    als hätte sie sich selber nicht mehr gern
    Dort in der Ferne brannte noch ein Licht
    so warm und hell, das konntest Du nur sein
    Manchmal bildet man sich Dinge ein
    Wie Mondschein, dabei leuchtet er doch nicht
    Orte ließen kalt uns scheinen
    war vereist und krumm die Welt
    Hinter dem nächsten Hügel lag Geschrei
    Maschinenheulen, gierig überm Ort
    ich duckte mich und schlich daran vorbei
    und wusste, wenn ich bleibe, bin ich fort
    Ich lief so, um im Schlaf Dir nah zu sein
    durch die Kälte, hinter Träumen her
    meine Spuren sieht man lang nicht mehr
    das was wir waren, waren wir allein
    Schneegespenster an den Wegen
    war vereist und krumm die Nacht
    lief der alten Welt entgegen
    dass sie mich endlich müde macht
    Manja Präkels (Gesang) und Florian Segelke (Gitarre)
    Text: Manja Präkels
    Wegmann: Die Schriftstellerin, Lyrikerin und Sängerin Manja Präkels ist heute Gast im Büchermarkt.
    In "Rastlos" heißt es in der ersten Strophe: "Es gab nur diese Richtung und kein Halt" ... im Refrain ist von Orten die Rede, die "ließen kalt uns scheinen", die Welt ist vereist und krumm. Und in der letzten Strophe heißt es: " ... lief der alten Welt entgegen, das sie mich endlich müde macht".
    Kann man dieses Lied schon als eine Art Vorstufe zu Ihrem Roman lesen, in dem die Ich-Erzählerin nach Hause, in den Osten zurückkehrt und ist dort die alte Welt?
    Präkels: Ich glaube, das kann man schon. Das war mir nicht bewusst, der Text ist ja schon 15 Jahre alt. Es ist mir beim Nachhören, wir haben mit der Band ein paar alte Perlen gehoben, da wurde mir das deutlich. Ich glaube, das war alles schon Vorarbeit, auf das Buch.
    Aus Freunden werden Feinde
    Wegmann: In Ihrem Roman "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" gehen wir zurück in die DDR und blicken auf das Leben in einer Kleinstadt nach dem Mauerfall.
    Das Buch war nominiert für den DJLP 2018 und gewann dann schon im Vorfeld eins der beiden Kranichsteiner Stipendium.
    Und hat gestern den DJLP 2018 in der Sparte Jugendbuch gewonnen, dazu herzlichen Glückwunsch.
    In dem Roman herrschen Wut und Angst! Eine Welle von Gewalttaten, überall. Es gibt Werbung für die "Reinheit des deutschen Volkes", zunehmende Nationalisierung, eine sprunghafte Zunahme von Glatzköpfen. Rassismus gegen Vertragsarbeiter aus Angola und Mosambik. Der Rassismus tauchte ja nicht plötzlich auf, sondern er zeigte sich plötzlich. Wie Zottel, Mimis Freund zu sagen pflegte: "Bei uns jibt’s jetz endlich wieder Nazis." (S.102)
    Wie entsteht nationalistisches Denken, wie entsteht Gewalt gegen Andersdenkende? – Ist das die zentrale Frage?
    Präkels: Die zentrale Frage ist eher: Wie können Menschen, die sehr ähnlich miteinander aufwachsen, Freunde sind, alles miteinander teilen, Feinde werden? Das ist die Geschichte, die ich versuche anhand der Freundschaft, anhand von Mimi und Oliver (später "Hitler") zu erzählen. Ja und auch darüber gibt das Buch Aufschluss, das hab ich mich stets gefragt: Wie konnte das sein? Wir haben ja erlebt, wie meine Generation im Furor auseinanderbrach und aus Freunden Feinde wurden. Wie die Asylbewerberheime geräumt wurden, eine weiße Gesellschaft zurückblieb. Die Mauer war zwar offen, aber man wollte die Welt nicht reinlassen. In dieser Zeit haben nationalistisches Gedankengut, Ressentiments, die vorher schon vorhanden waren, zu völlig neuen Dimensionen gefunden. Und gerade in meiner Generation hat sich das dann auch entladen, in ganz, ganz harten Kämpfen gegen Leute, die unangepasst waren. Mädchen mit kurzen Haaren, Jungs mit langen Haaren, gegen Leute, die einen schrägen Musikgeschmack hatten. Also, die Frage spielt durchaus eine Rolle, aber ich hab mich auf einer ganz menschlichen Ebene gefragt, gespeist von eigenen bitteren Erfahrungen, wie konnte das sein, das uns das geschah, dass wir, die wir eben noch als Mitschüler neben einander saßen, einander halfen, dass wir auf einmal zu Todfeinden wurden, bzw. dass wir die Gejagten wurden und wir haben es nicht begriffen. Das versuche ich durch Mimi und ihre Freunde aufzuzeigen, dass das eine tragische Dimension ist. Später war es dann anders.
    Wegmann: Mimi ist Ihre Ich-Erzählerin. Oliver wird später zu Hitler.
    Wir hören jetzt den Anfang, gelesen von der Schriftstellerin Manja Präkels.
    Lesung
    Wegmann: Das war Manja Präkels. Sie las aus Ihrem Roman "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß", erschienen im Verbrecher Verlag.
    Wir erleben viel Zeitkolorit, viel Alltag in der DDR. Dann Honeckers Rücktritt. Der Mauerfall. Sie selbst waren 15 Jahre alt im Jahr 1989, ähnlich wie ihre Erzählerin Mimi.
    Da heißt es, die Leute seien plötzlich so verändert:
    "Kam etwas aus ihrem Innern zum Vorschein?" (S.94)
    "Was mit unserem Land, der DDR geschah, war aus der Froschperspektive schwer zu überblicken. Niemand sprach mehr von ihr. Waren wir noch da?" (S.102)
    Ist das einer der Schlüsselsätze?
    Präkels: Für eine bestimmte Phase ganz sicher. Also eine Phase der ideologischen Leere, man kann sich ja vorstellen, bei einem Systemzusammenbruch verlieren ja sämtliche Autoritäten – eben genau diese. Und Mimi gehört zu den Kindern, die geprägt waren von der DDR und die natürlich auch bereit war, die Ideologien anzunehmen. In eine Kinderwelt ist das eingebunden und tatsächlich ist da auch eine große Enttäuschung passiert. All das, was gestern galt, galt plötzlich nicht mehr. Woran sollte man jetzt glauben? Alles, was die Eltern, die Lehrer, die Autoritäten sprachen, galt plötzlich nicht mehr. Sie redeten aber nicht darüber, relativierten das nicht und erklärten auch nichts. Das war ein Bruch zwischen den Generationen, den beschreib ich auch. Wie ein Messer durch die Butter geht, scheint sich für einen kurzen Moment alles aufzulösen. Und alle Beziehungen und Möglichkeiten, miteinander zu sprechen, scheinen nicht mehr zu funktionieren. Und genau darauf wollte ich hinaus.
    Der Verlust der Zukunft
    Wegmann: Sie beschreiben das ganz schön anhand des Bildes des Zeitstrahls. Es geht natürlich auch um Zukunft. Es ist die Rede von einem Zeitstrahl mit dem Ziel Kommunismus, und wird das Ziel entfernt, stellt sich die Frage: "Was war eigentlich aus der Zukunft geworden?" (S. 109) Was sich zuerst gezeigt hat, waren Arbeitslosigkeit, Enteignungen, Selbstmorde. Und eine Angst als ein durchgängiges Gefühl in dieser Gesellschaft. Ein deprimierendes Bild. Perspektivlose Existenzen, vor allem Jugendliche, die sich mit Alkohol und Drogen über Wasser halten.
    Mimi tritt in den Hungerstreik nachdem ein Freund ermordet wurde, will verschwinden, und da heißt es: "Keine Idee für morgen!" (S.152)
    Haben wir das alle nicht gesehen? Nicht sehen wollen?
    Fragt sich die Erzählerin. Fragt sich und uns das auch Manja Präkels?
    Präkels: Unbedingt! Eine große Frage, die auch eine Generationsfrage ist. Eltern und Kinder. Ich hab ganz oft im Publikum Leute meines Alters, die mit ihren Eltern da sind. Weil jetzt geredet wird und auch ein Bedürfnis da ist, eine Notwendigkeit da ist. In dieser sozialen Katastrophe war jede Familie von Arbeitslosigkeit betroffen, von einer großen Unklarheit. Was bedeutete das neue System? Das man die selbe Sprache spricht, also Deutsch, heißt ja nicht, das man das selbe meint. Die Auflösung, das ist die Frage.
    "Haben wir das alle nicht gesehen? Nicht sehen wollen?"
    Wegmann: Ihre Erzählerin ist eine kluge Beobachterin, keine Anklägerin, mehr eine erstaunte Betroffene?
    Entsprechend ist Ihr Stil puristisch, lakonisch, präzise. In gewisser Weise abgeklärt. Sind Sie abgeklärt, wenn Sie jetzt auf das Land Ihrer Kindheit und Jugend schauen?
    Präkels: Nein, ich neige eher zum Verträumten. Und bei aller Ernsthaftigkeit, mit der man die Dinge betrachten muss, bin ich doch eher eine Idealistin. Allerdings, was ich noch ergänzen möchte, manchmal bin ich abgeklärt, oder eher ungeduldig, was die Geschichten der ostdeutschen Lebenswelten betrifft, dass ganz lange ein Desinteresse seitens der Westdeutschen da war. Und bis heute spüre ich eine große Unkenntnis und auch Ignoranz. Man macht sich das doch auch jetzt gerade wieder sehr einfach, wenn man die Ereignisse von Chemnitz damit kommentiert: Die da drüben, die es bis heute nicht gelernt. Da bin ich manchmal abgegessen, weil ich denke: Leute, es ist so viel Zeit vergangen. Es gibt so viel gute Literatur, wo man das nachlesen kann und vor allem: In was für einem Land wir gemeinsam leben wollen, da muss man eben alle miteinbeziehen, egal, wo sie herkommen, ob sie Migrationshintergrund haben, oder aus Ost oder West. Wenn dieses Land eine Zukunft haben soll, dann muss es sich erst mal zusammenraufen und in Weltzusammenhänge einordnen.
    Wegmann: Sie erhalten in diesen Tagen den Anna-Seghers-Preis, vergeben wird er seit 1986 an Nachwuchsautorinnen und -autoren. Jan Wagner, Gioconda Belli, Nico Bleutge und Nino Haratischwili haben ihn bekommen. Und nun Sie, Manja Präkels. Was werden wir von Ihnen erwarten können?
    Präkels: Eigentlich Betriebsgeheimnis, das bringt Unglück, wenn man zu viel erzählt. Aber ich möchte das Buch in Berlin ansiedeln, wo ich seit zwanzig Jahren und sehr glücklich lebe. Auf der anderen Seite geht es um die Sprachlosigkeit, sich Geschichten zu erzählen - zwischen Ost und West, das ist schon ein großes Thema für mich.
    Haltung zeigen
    Wegmann: Wir hören nun zum Abschluss ein drittes Lied: Wir verlassen den Grund. In allen drei Liedern geht es um Träume. Welche Bedeutung hat das Träumen für Manja Präkels?
    Präkels: Ohne Träume sind die Menschen verloren. Ich träume davon, dass die Menschen Worte finden für das, was sie empfinden. Beharrlicher sind. Sich aufrichten. Haltung zeigen, nicht Gardinen zumachen und Türen verschließen, sondern rausgehen, den anderen ins Gesicht schauen. Davon träum ich.
    Wegmann: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Manja Präkels. Herzlichen Dank für die Gitarre Florian Segelke.
    Die Sendung können Sie, verehrtes Publikum, nachhören oder nachlesen - auf unserer Webseite deutschlandfunk.de. Ein schönes Wochenende hier auf der Messe oder zuhause wünscht Ihnen Ute Wegmann.
    Wir verlassen den Grund
    Worte, Berge, Weise
    Ziehen den Fluß hinab
    Boote fliehen leise
    auf und davon
    Die Kinder kauen Knospen ab von einem Baum
    Sie hocken im Geäst, rauben ein Vogelnest
    Ach könnten sie schlafen
    wie Du oder ein Stein
    fliegen mit dem Wind
    fort von allem Sein
    Wir verlassen den Grund
    denn er gehört uns nicht
    Wir verlassen den Grund
    denn er gehört uns nicht
    Die Nacht in der das Fürchten wohnt
    hat auch die Sterne und den Mond.
    Der Toten Geister fliegen fort.
    Sie weisen uns den Weg, der Ort:
    Europa, deine Mauer fällt.
    Das Meer ist groß. Der Himmel hält.
    Ach könnten wir träumen
    wie Du oder ein Stein
    Den Morgen sehn, das Werden
    einfach - freundlich – sein

    Wir verlassen den Grund
    denn er gehört uns nicht
    Wir verlassen den Grund
    denn er gehört uns nicht
    Manja Präkels (Gesang) und Florian Segelke (Gitarre)
    Text: Manja Präkels
    Manja Präkels: "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" Verbrecher Verlag, Berlin
    Markus Liske und Manja Präkels (Hrsg.): "Vorsicht Volk! Oder: Bewegungen im Wahn?" Verbrecher Verlag, Berlin
    Markus Liske und Manja Präkels (Hrsg.): "Erich Mühsam. Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch."
    Verbrecher Verlag, Berlin