Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Frankreich
"Bürger sollen Angst haben, zu demonstrieren"

Die geplante Arbeitsmarktreform der sozialistischen Regierung in Frankreich sorgt für Demonstrationen, Streiks und Gewalt. "Die Regierung hat es geschafft, ihre ganze Wählerschaft zu enttäuschen" sagte die Medienwissenschaftlerin Valérie Robert im Deutschlandfunk. Die Protestbewegung Nuit Debout werde nun sogar gezielt mit Polizeigewalt bekämpft.

Valérie Robert im Gespräch mit Thielko Grieß | 26.05.2016
    Ein Demonstrant hält die Hand in die Luft, im Hintergrund eine Blockade aus Reifen auf einer Straße, Polizisten sperren die Straße, dahinter ist ein Feuer zu sehen.
    Proteste gegen die geplante Arbeitsrechtsreform in Frankreich vor der Raffinerie Douchy-Les-Mines (FRANCOIS LO PRESTI / AFP)
    "Wir haben eine Regierung, die von ihrem Programm völlig abgewichen ist. Es darf nicht vergessen werden, dass wir es hier mit einer - vermeintlichen - sozialisitschen, immerhin aber sozialdemokratischen Regierung zu tun haben, die aufgrund eines linken Programms gewählt worden ist", sagte Robert. Diese habe es geschaft, ihre ganze Wählerschaft zu enttäuschen. Viele Wirtschaftswissenschaftler seien der Meinung, dass diese Reform die Interessen des Arbeitgeberverbands bediene und keinesfalls die Arbeitslosigkeit bekämpfen könne, so Robert.
    Nuit Debout, die als Protestbewegung gegen die geplanten Reformen entstand, sei längst eine Dauereinrichtung geworden. Die Bewegung habe sich teilweise radikalisiert, nachdem sie auf Polizeigewalt gestoßen sei. "Die Polizisten sagen selbst, dass hier eine Strategie der Eskalation besteht. Damit solle normalen Bürgern Angst gemacht werden, zu demonstrieren", sagte Robert. Nach den Terroranschlägen im November seien durch den verhängten Notstand Freiheitsrechte eingeschränkt worden. "Das wird ausgenutzt, um gegen politische Gegner vorzugehen."

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Thielko Grieß: Frankreich streitet erbittert über die Arbeitsmarktreform, die die sozialistische Regierung mit Premier Vals und dem Präsidenten Hollande anstreben. Im Parlament verwendet die Regierung einen Sonderparagrafen der Verfassung, der eine Mehrheit zu umgehen erlaubt. Die Regierenden zeigen sich entschlossen, allerdings zeigt sich auch ein Teil der Gewerkschaften entschlossen, diese Reform zu stoppen. Seit Tagen werden Raffinerien blockiert, Benzin und Diesel werden an etlichen Tankstellen bereits knapp, die Schlangen länger, die Tanks sind inzwischen an manchen Orten sogar ganz leer, und ein Ende ist nicht in Sicht.
    - Ich bin verbunden mit Valérie Robert. Sie ist Germanistin und Medienwissenschaftlerin an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris. Guten Morgen, Frau Robert!
    Valérie Robert: Guten Morgen!
    Grieß: Wenn wir hören hier in Deutschland von Streik in Frankreich, dann neigen wir in Deutschland gelegentlich dazu, mit den Schultern zu zucken und zu sagen, ja Gott, schon wieder. Geht es Ihnen auch so?
    Robert: Eigentlich nicht, denn ich glaube, dass in Deutschland ab und zu gestreikt wird. Ich erinnere mich an diesen Streik der Lokführer zum Beispiel, also das ist in Deutschland auch nicht so unbekannt. Aber ja, wir haben wir hier einen großen Streik, aber eigentlich auch einen Prozess, der schon seit längerer Zeit andauert gegen diese Arbeitsrechtsreform. Ja, natürlich, eigentlich besteht das Streikrecht weiterhin. Und ein Streik, der niemand stört, hat wohl wenig Chancen auf Erfolg. Und natürlich geht es darum, die Wirtschaft zu beeinträchtigen. Und da trägt die Regierung die ganze Verantwortung, was übrigens nach Umfragen auch die Meinung einer Mehrheit der Bevölkerung ist.
    Grieß: Ich darf Sie fragen als Bürgerin der Republik Frankreich, halten Sie die Reform, die beabsichtigt ist, für gerechtfertigt?
    Robert: Eigentlich überhaupt nicht. Ich bin völlig dagegen, wie gesagt, wie sehr viele Bürgerinnen und Bürger. Ich glaube, viele Sorgen sich um die Zukunft unserer Kinder, die eben auch beeinträchtigt wird von dieser Reform. Übrigens sind auch viele Wirtschaftswissenschaftler der Meinung, dass diese Reform eigentlich den Interessen des Arbeitgeberverbands dient und auf keinen Fall die Arbeitslosigkeit bekämpfen kann.
    Grieß: Nun hat sich die Regierung und nun hat sich ja auch der Präsident gewissermaßen verbissen in dieses Projekt. Was glauben Sie, wer wird sich am Ende durchsetzen?
    Robert: Das kann ich jetzt nicht prophezeien. Aber ich glaube, wir sind natürlich in einer besonderen Lage ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl. Und das ist natürlich ein besonderer Kontext. Das heißt, dass jeder jetzt versucht, sich zu profilieren, da Francois Hollande auch sehr gern wiedergewählt würde. Aber wir haben hier natürlich eine Regierung, die von ihrem Programm völlig abgewichen ist. Es darf ja nicht vergessen werden, dass wir es hier mit einer vermeintlich sozialistischen, aber immerhin sozialdemokratischen Regierung zu tun haben, die aufgrund eines linken Programms gewählt wurde. Und sie hat es geschafft, ihre ganze Wählerschaft zu enttäuschen beziehungsweise zu vergrämen, auch durch die verschiedenen Maßnahmen nach den Anschlägen. Ausnahmezustand, Beschränkung der Grundrechte und Grundfreiheiten, eine Schulreform, die von den meisten Lehrern weiterhin abgelehnt wird. Und jetzt eben diese Arbeitsrechtsreform.
    Grieß: Sie sehen schon die Addition, das höre ich jetzt so raus, die Addition der verschiedenen Vorhaben der Regierung, die sich gewissermaßen auftürmen und zu dieser Ablehnung geführt haben.
    Robert: Regierung setzt Reformen gegen eigene Mehrheiten durch
    Robert: Ja, das ist völlig richtig. Und man muss schon sagen, eine Regierung, die ihre Reformen gegen ihre eigene Mehrheit im Parlament durchsetzen muss, das ist schon unerhört. Wie gesagt, es gibt einen größeren Protest, zum Beispiel die Bewegung Nuit Debout, die schon seit fast zwei Monaten – jeden Abend wird da über Politik und Gesellschaft diskutiert, in ganz Frankreich, also nicht nur in Paris. Und das ist schon ein Zeichen dafür, dass hier etwas passiert, das weit über diese Reformen hinausgeht. Und gut, dass diese Bewegung sich dann auch radikalisiert, wenn man das so sagen möchte, hängt auch damit zusammen, dass die Bewegung auch auf Polizeigewalt gestoßen ist. Und dass die verschiedenen Freiheiten in Frankreich auch beschränkt wurden infolge der Anschläge vom letzten November. Das alles ergibt eben ein Gesamtbild. Und das kann eben auch zu diesen schweren Streiks führen.
    Grieß: Jetzt gibt es in Deutschland ja nicht nur viele Bürger, sondern auch etliche Politiker, die beim Blick auf Frankreich mit den Augen rollen und ein wenig seufzen und sagen, ach Leute, jetzt reformiert euch doch endlich einmal. Empfinden Sie das als arrogant?
    Robert: Das ist nicht nur arrogant. Das ist das allgemeine Klischee über Frankreich, das vermeintlich nicht in der Lage wäre, sich zu reformieren. Eigentlich kämpft Frankreich gegen ein neoliberales Weltbild, das eigentlich auch schon weitgehend durchgesetzt wurde, gegen den Mythos eines unreformierbaren Frankreichs. Und übrigens sind Reformen ja nicht unbedingt positiv oder neutral und bringen auch nicht unbedingt Fortschritt mit sich. Das hat man auch am griechischen Beispiel feststellen können.
    Grieß: Sie sehen also schon auch ernstgemeinte politische Gegenangebote und nicht nur ein hartes, starres, vielleicht störrisches Nein?
    Robert: Ja, auf jeden Fall. Und ich glaube eben, dass diese Nuit-Debout-Bewegung, wo sehr viele Leute, und nicht nur junge Menschen, miteinander diskutiert haben und weiterhin diskutieren und an einem kollektiven Projekt arbeiten. Gut, die haben bisher keine ganz konkreten Projekte, aber ich glaube, da ist etwas entstanden, ein Wille, gemeinsam zu diskutieren und die Politik zu erneuern.
    Grieß: Könnte es sein, dass Nuit Debout zu einer Dauereinrichtung wird, oder befürchten Sie womöglich, dass die Bewegung bald wieder einschläft?
    Robert: Sie ist es eigentlich schon geworden, seit ein paar Monaten. Das ist schon eine sehr lange Zeit in der Politik und in der öffentlichen Debatte. Nur ist es so, dass sie immer mehr, wie schon gesagt, mit Polizeigewalt konfrontiert wird. Das ist eigentlich auch bei den Demonstrationen so. Ich muss schon sagen, es fürchten sich jetzt in Frankreich sehr viele Menschen, zu demonstrieren.
    Grieß: Und der Staat reagiert zu hart, Ihrer Auffassung nach?
    Robert: Organisierte Polizeigewalt gegen nicht gewalttätige Demonstranten
    Robert: Ja, natürlich, und die Polizisten sagen das selbst, dass hier eine Strategie der Eskalation besteht, und es geht eben darum, um eine organisierte Polizeigewalt gegen nicht gewalttätige Demonstranten, um eben normalen Bürgern Angst zu machen. Das heißt, wir haben hier in Frankreich – natürlich ist Frankreich das Land der Freiheiten, ursprünglich – eine Beschränkung der Grundrechte und der Grundfreiheiten erlebt, besonders eben seit den Anschlägen vom letzten November mit diesem Ausnahmezustand, der jetzt ausgenutzt wird, um gegen die politischen Gegner zu agieren.
    Grieß: Frau Robert, sind Sie Fußballfan?
    Robert: Überhaupt nicht, aber als Germanistin muss ich mich für Fußball interessieren.
    Grieß: Ich wollte gerade fragen, ob sich irgendjemand noch auf die Europameisterschaft freut in Frankreich.
    Robert: Ja, sicher, aber ich glaube, wir haben hier jetzt wichtigere Sachen. Und ich glaube auch, in einer Umfrage wurde ermittelt, dass die Bevölkerung auch findet, wenn die EM dann gestört wird von den Streiks, dann ist auch die Regierung dafür verantwortlich.
    Grieß: Spannende Wochen stehen uns bevor. Danke für Ihre Eindrücke und Einschätzungen! Valérie Robert, Germanistin und Medienwissenschaftlerin an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris. Danke schön!
    Robert: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.