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Frankreich
"Das Judentum ist sehr lebendig"

Mit rund einer halben Million Menschen hat Frankreich die größte jüdische Gemeinschaft in Europa. Und obwohl sie immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert sind, gibt es ein reiches kulturelles und spirituelles Leben in den jüdischen Gemeinden.

Von Marcel Wagner | 26.11.2018
    Die Pariser Jüdin Esther Bekerman besucht am 12.01.2015 in Paris (Ile-de-France) ein Geschäft, in dem zuvor ein Mann vier jüdische Geiseln erschossen hat und anschließend von der Polizei getötet worden ist, und hat sich dabei die Fahne von Israel umgehangen.
    Zuversicht trotz Antisemitismus: Die Pariser Jüdin Esther Bekerman nach dem Überfall auf einen koscheren Supermarkt im Januar 2015 (Fredrik von Erichsen/dpa)
    Der Unterricht ist aus an der Beth Hanna Schule im 19. Arrondissement, ganz im Osten von Paris. Hunderte Schüler, die Jungs meist mit der traditionellen jüdischen Kippa auf dem Kopf, die Mädchen in Schultracht, strömen in den Hof. Die Sicherheitsleute öffnen die schweren Stahltore immer nur für Augenblicke. Väter mit hohen schwarzen Hüten und langen Bärten, Mütter mit traditionellen Röcken bringen ihre Kinder nach draußen und machen sich eilig auf den Heimweg.
    "Das ist immerhin eine jüdische Schule hier und es kommen viele Kinder gleichzeitig heraus", meint Marjurie und zieht ihre beiden Töchter an den Händen weiter. "Es ist wichtig, nicht zu lange am gleichen Ort zu bleiben. Es gibt die Sorge, dass irgendeiner kommt und einen antisemitischen Akt verübt oder wer weiß was sonst."
    Eigentlich jeder hier kenne furchtbare Geschichten, erzählt die junge Mutter.
    "Es gab hier einen jüdischen Jungen, der wurde schwer angegriffen. Er hatte seine Kippa auf und war alleine. Ein paar Jugendliche haben ihn zusammengeschlagen. Er war Monate im Krankenhaus."
    Und sie selbst?
    "Nein", betont Marjurie, "in meinem Alltag erlebe ich glücklicherweise überhaupt keinen Antisemitismus."
    Auf dem Pausenhof beleidigt
    Viele der Familien, deren Kinder die Beth Hanna Schule besuchen, wohnen hier im Quartier. Das sei ein Privileg, erzählt Rabbi Haim Niesenbaum – und streicht sich im Direktorenzimmer der Schule durch den langen grau-schwarzen Bart.
    "Man muss sagen, dass das 19. eher eine gute Überraschung darstellt."
    Rabbi Niesenbaum steht der Beth Loubavitch Gemeinde vor, der hier im Viertel mehrere tausend Mitglieder angehören und die die private Beth Hanna Schule trägt. 2000 Schülerinnen und Schüler besuchen den riesigen Komplex. Und die Zahl steige ständig, erläutert der Rabbi, vor allem, weil längst auch weniger gläubige Familien ihre Kinder von den staatlichen Schulen nehmen würden.
    "Selbst die Kinder der kaum praktizierenden Familien sind dort im Alltag mit Antisemitismus konfrontiert. Die Mitschüler bekommen mit, dass sie Juden sind, und auf dem Pausenhof werden sie beleidigt, wenn nicht gar geschlagen."
    Dabei will Haim Niesenbaum die Situation eigentlich gar nicht schlecht reden.
    "Im Großraum Paris – und auch in den anderen großen Städten – ist das Judentum sehr lebendig. Die jüdischen Schulen sind voll. Es machen – vor allem hier im 19. – immer neue Synagogen auf, und die sind alle voll."
    "Es gibt Gemeinschaften, die haben sich einfach aufgelöst"
    Doch vor allem in den migrantisch geprägten, sozial schwierigen Vorstädten, den Banlieus, habe sich die Situation in den vergangenen Jahren mehr und mehr verschlechtert.
    "Zum Beispiel in den nördlichen, nordöstlichen Vorstädten. Dort ist das jüdische Leben durch den neuen Antisemitismus unglaublich schwierig geworden. Es gibt Gemeinschaften, die haben sich einfach aufgelöst. Die Mitglieder sind alle weggezogen."
    Der alte Antisemitismus der Rechtsextremen sei zwar in Frankreich noch immer latent zu spüren, äußere sich aber kaum noch in Übergriffen. Der neue Antisemitismus, erläutert Haim Niesenbaum, entstamme zum kleineren Teil dem linksextremen, antizionistischen Lager. Vor allem aber sei er unter jugendlichen Muslimen weit verbreitet.
    Politik und Medien greifen das Thema immer wieder auf. Zuletzt läutete Frankreichs Premierminister, Edouard Philippe, die Alarmglocken. Zum Jahrestag der Reichspogromnacht in Deutschland warnte Philippe, die Zahl der gemeldeten antisemitischen Taten habe in den ersten neun Monaten dieses Jahres fast 70 Prozent höher gelegen als im Vorjahreszeitraum. Insgesamt wurden 400 Übergriffe bekannt. Ein Drittel davon waren Gewalttaten oder Sachbeschädigungen. Auch Präsident Macron hat immer wieder deutlich Stellung bezogen:
    "Welche Form auch immer er annehmen mag, von der Beleidigung bis zur Aggression, von der Brandmarkung bis zum Mord - der Antisemitismus ist immer das Gegenteil der Republik. Er ist die Schande Frankreichs."
    Das bekannte Emmanuel Macron beim traditionellen Jahresempfang der Crif, des Zentralrates der jüdischen Einrichtungen in Frankreich. Und er versprach, entschieden gegen den Antisemitismus vor allem im Internet zu kämpfen. So sollen ab kommendem Jahr Plattformen wie Facebook gezwungen werden, gemeldete rassistische oder antisemitische Äußerungen innerhalb kürzester Zeit aus dem Netz zu nehmen.
    Der Staat will gegen Antisemitismus vorgehen
    Das soll auch der Radikalisierung von Jugendlichen vorbeugen. Genauso wie eine pädagogische Eingreiftruppe, die Lehrern zur Seite stehen soll, die mit Hass konfrontiert werden. Außerdem sollen Opfer von Übergriffen aus Hass diese im Internet leichter anzeigen können. Maßnahmen, die Rabbi Haim Niesenbaum für gut und richtig hält.
    "Schon die letzte, aber auch die aktuelle Regierung haben die Probleme anerkannt, das ist sehr wichtig. Und sie haben auch die Mittel gegeben, die nötig waren."
    Wirklich optimistisch ist der Glaubensmann trotzdem nicht. Nein, das Problem löse das alles nicht. Dazu seien die sozialen, religiösen und kulturellen Ursachen des Antisemitismus leider auch in Frankreich viel zu komplex und tief verwurzelt, fürchtet der Rabbiner.