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Frankreich
Das laizistische Klassenzimmer

Im Juni bekamen Frankreichs Lehrerinnen und Lehrer einen Laizismus-Leitfaden des Schulministeriums. Auf 80 Seiten steht, wie sie gegen religiöse Äußerungen in Worten und Kleidung vorgehen sollen. Jetzt enden die Sommerferien und der erste Praxistest steht bevor.

Von Margit Hillmann | 28.08.2018
    Eine Frau mit Kopftuch auf einer Demonstration gegen das Kopftuchverbot in französischen Schulen im März 2013
    Der "Laizismus-Leitfaden", der etwa das Tragen von Kopftüchern an französischen Schulen verbietet, sorgt für Diskussionen bei Lehrergewerkschaften und Elternvertretern (Picture Alliance / Remi Ochlik)
    Später Nachmittag vor einer Gesamtschule in der Pariser Banlieue Bobigny: Eine Gruppe Schülerinnen passiert das massive Eisenportal. Kaum draußen, zieht eine der Teenagerinnen ein schwarzes Kopftuch aus ihrer Tasche, bindet es um. Für sie und ihre Freundinnen eine Selbstverständlichkeit:
    Sie halten sich an die Laizismusregeln, sagen sie. Das muslimische Kopftuch ist auf dem Schulgelände verboten, draußen – nach der Schule – tragen sie, was sie wollen.
    "Laizismus heißt, dass man in der Schule nicht zeigt, was man ist. Und dass man alle religiösen Zeichen oder Zeichen der Kultur versteckt", sagt eine von ihnen.
    Sie würden die Vorschriften immer respektieren, obwohl sie manchmal wirklich ungerecht seien.
    "Letztens musste eine Schülerin ihre knielange Tunika in die Hose stecken. Die Lehrer haben gesagt, dass sie damit ihre Religion zeigt. Das fand ich nicht normal. Das war einfach nur ein langes Hemdkleid, kein religiöses Zeichen", erzählt eine Schülerin.
    Bei heiklen Unterrichtsthemen, sagt Leila, die das muslimische Kopftuch trägt, halte sie sich grundsätzlich zurück. Zum Beispiel, als sie kürzlich das Thema Abtreibung durchgenommen haben:
    "Wenn man weiß, dass man mit seiner Überzeugung gegen die Regel verstößt, dann beteiligt man sich nicht an Diskussionen im Unterricht. Man sagt nicht seine Meinung, wenn es irgendwie mit Religion zu tun hat."
    Mit dem Zentimetermaß an der Schulpforte
    Es gibt keine zuverlässigen Zahlen über Verstöße gegen das Laizismus-Prinzip an Frankreichs Schulen. Doch glaubt man dem französischen Schulminister Jean-Michel Blanquer, ist die Schule als streng religionsneutrale Institution nach wie vor in Gefahr. Seine Amtsvorgänger, kritisierte der Minister in einem Interview, hätten zu sehr auf Prävention und den Dialog mit Problemschülern gesetzt - zu wenig auf klare Verbote und konsequentes Durchgreifen gegen religiösen Eifer unter dem Schuldach.
    Das soll sich mit dem "Vademecum" ändern. Ein Laizismus-Leitfaden für Lehrer, den der Minister im Juni an alle staatlichen Schulen verschickt hat: Über 80-Seiten mit Gesetzestexten, diversen Fallbeispielen unlaizistischen Schüler- und Elternverhaltens und systematischen Anleitungen, wie Schuldirektoren und Lehrer dagegen vorgehen sollen. Ausgerechnet bei Frankreichs Lehrergewerkschaften löst der Laizismus-Leitfaden Kritik aus.
    Fabienne Bellin, Sprecherin der mitgliederstarken Gewerkschaft SNES-FSU moniert ein technokratisches Regelwerk, das weder dem komplexen Laizismusproblem noch der Rolle der Lehrer gerecht werde.
    "Es kann nicht darum gehen, dass wir morgens mit dem Zentimetermaß an der Schulpforte kontrollieren, ob der dunkle Rock einer Schülerin jetzt zu lang ist und ihr Haarband zu breit. Ob sie mit ihrer Kleidung nicht doch – wie es im Leitfaden steht – ihre religiöse Zugehörigkeit zeigen will und nach Hause geschickt werden muss. Es wird so getan, als würden solche Anleitungen ausreichen, um die Probleme zu regeln."
    Hochhaussiedlung in Drancy, aufgenommen am 19.11.2015. Der Ort in der Pariser Banlieue gilt als sozialer Brennpunkt. Hier leben rund 67 000 Einwohner, darunter viele Migranten. Foto: Peter Zschunke/dpa (zu dpa "Pariser Banlieue: Vielfalt statt Terrorismus" vom 19.11.2015) | Verwendung weltweit
    Die Probleme in den Banlieues werden durch ein Kopftuchverbot nicht gelöst (picture alliance / dpa / Peter Zschunke)
    Formale Laizismusregeln durchzusetzen, wie das Verbot religiöser Kleidung, gehört in Frankreichs Schulen inzwischen zur Routine. Beklagen Lehrer Laizismusverstöße, geht es vielmehr um Schüler, die sich im Unterricht querstellen und sich dabei auf ihre religiöse Identität oder Glaubensvorschriften berufen: Im Geschichtsunterricht, wenn es um Themen wie den israelisch-palästinensischen Konflikt, die französische Kolonialzeit oder Religionsgeschichte geht, oder wenn "Moral und Bürgerpflichten" auf dem Stundenplan steht, das nach den Pariser IS-Attentaten 2015 landesweit als Pflichtfach eingeführt wurde. Aber auch Darwins Evolutionstheorie, Sexualkunde oder zum Beispiel gemeinsamen Sportunterricht für Mädchen und Jungen lehnen Schüler aus religiösen Gründen ab. Gewerkschafterin Bellin, die selbst in der Sekundarstufe unterrichtet:
    "Mehr Sorgen müsste man sich auch um die stillen Schüler machen, die nicht auf Konfrontation gehen, keine religiösen Forderungen stellen. Die aber die Schotten dicht machen, wenn der Lehrer Stoff unterrichtet, von dem sie glauben, dass er gegen ihre Religion verstößt. Sie sind vielleicht sogar das größere Problem, das aber im Laizismus-Handbuch gar nicht behandelt wird."
    Laizismus will gelernt sein
    Nur gut vorbereitete Lehrer seien in der Lage, religiöse Blockaden der Schüler im Unterricht zu überwinden, ist Bellin überzeugt. Ihre Gewerkschaften fordert deshalb entsprechende Schulungsangebote. Tatsächlich – das ergab eine im Juni veröffentlichte Studie – haben drei Viertel der französischen Lehrer während ihres Studiums nichts über das laizistische Prinzip gelernt; 95 Prozent haben nie eine Fortbildung zum Thema bekommen. Ein Drittel der befragten Lehrer hat schon Unterrichtsstoff ausgelassen, um potenziellen Konfrontationen mit Schülern aus dem Weg zu gehen.
    Rodrigo Arenas ist Vorstandsmitglied der Elternorganisation FCPE und im Elternbeirat des Departements Saint-Denis, das mit seinen überproportional vielen Brennpunktschulen an den Pariser Norden grenzt. Er wirft dem Schulminister politische Effekthascherei vor.
    "Der Laizismus-Leitfaden hat absolut nichts Neues zu bieten, auch keine neuen Laizismusregeln. Er ist vor allem eine Botschaft an die französische Öffentlichkeit nach dem Motto: Wir lassen nichts durchgehen."
    Auch der Elternvertreter beklagt, dass es Lehrern am nötigen Wissen und pädagogischem Rüstzeug fehlt, um laizistischen Unterricht zu garantieren. Ein Problem seien allerdings nicht nur Lehrer, die wichtigen Unterrichtstoff ausklammern, um Konflikte mit Schülern zu vermeiden.
    "Es gibt genauso Lehrer, die einen Laizismus anwenden, der gar keiner ist. Die sich verhalten wie eine Art Gedankenpolizei."
    "Laizismus-Verständnis, das gegen das Gesetz verstößt"
    Schüler mit muslimischem Familienhintergrund würden per se als religiös und islamismusgefährdet stigmatisiert und gegängelt. In den Banlieuevierteln beschwerten sich Eltern auch, dass ihre Kinder vom Schulpersonal unter Druck gesetzt würden, wenn sie in der Kantine kein Schweinefleisch essen. In einigen Schulen würden sogar Klassenausflüge gestrichen, kritisiert Elternvertreter Arenas.
    "Lehrer machen keine Ausflüge mit ihren Schülern, wenn die freiwilligen Begleitpersonen, die sich melden, Mütter mit Kopftüchern sind. Das ist ein echter Skandal: Lehrer oder Schulleiter mit einem Laizismus-Verständnis, das gegen das Gesetz verstößt. Die es für einen Verstoß gegen die Laizismusregeln halten, wenn Mütter mit muslimischem Kopftuch die Kinder begleiten."
    Schulkinder werden von ihren erwachsenen Begleitern durch die Straßen gelotst - eine der Mütter trägt ein Kopftuch
    Schulausflüge dürfen in Frankreich weiterhin von Eltern mit religiöser Kleidung begleitet werden (Deutschlandradio / Margit Hillmann)
    Eine Position, die von vielen Lehrern und Politikern in Frankreich geteilt wird, die auch der Schulminister und Staatschef Emmanuel Macron noch im Frühjahr öffentlich vertreten haben. In den Anleitungen des Laizismus-Leitfaden steht es nun allerdings anders: Eltern, die Schulausflüge begleiten – heißt es in dem Regelwerk – "können" religiöse Kleidung und Schmuck tragen, aber Verhalten und Diskurse müssen neutral bleiben. - Geltendes Recht, das in den vergangenen Jahren mehrfach von Gerichten und auch dem französischen Verfassungsrat bestätigt wurde. Statt einen repressiven Laizismus bis an die gesetzlichen Grenzen auszureizen, kommentiert Elternvertreter Arenas, täte der Schulminister besser daran, die laizistische Schule als einen Ort der Aufklärung und sozialen Emanzipation zu stärken und für mehr Chancengleichheit der Migrantenkinder in den Banlieueghettos zu sorgen.
    "Frankreich – das muss man leider feststellen - hat es bis heute nicht geschafft, die Laizismusdebatte von der populistischen Schiene zu holen", sagt Arenas. "Das gilt insbesondere für den Islam, aber auch grundsätzlich für alle Religionsfragen."