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Frankreich
Das "Parlament der Unsichtbaren"

Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage suchen manche Franzosen Rettung in rechts- und linksextremen Heilsversprechen. Der Historiker Pierre Rosanvallon will mit einem Internetprojekt einen demokratischen Raum für alle schaffen, die sich von den politischen Institutionen nicht mehr repräsentiert fühlen.

Von Kathrin Hondl | 04.02.2014
    "Raconter la vie" - "Das Leben erzählen": Mit einem Internetportal und einer gleichnamigen Taschenbuchreihe will der französische Historiker Pierre Rosanvallon ein "Parlament der Unsichtbaren" gründen – einen demokratischen Raum für alle, die sich von den politischen Institutionen in Frankreich nicht mehr repräsentiert fühlen.
    "Ich möchte an eine Tradition anknüpfen, die Demokratie nicht nur als Zusammenspiel von Verfahren und Institutionen begreift. Demokratie bedeutet, eine gemeinsame Welt zu schaffen. Demokratie heißt, Gemeinsamkeit zu produzieren und nicht nur eine repräsentative Regierung zu organisieren."
    Die Zerrissenheit der französischen Gesellschaft, die Zunahme von Fremdenhass und religiösen Auseinandersetzungen, die Wahlerfolge extremistischer und populistischer Parteien - all diese Krisensymptome der Demokratie, sagt Rosanvallon, hätten vor allem damit zu tun, dass die Franzosen zu wenig voneinander wissen.
    Um das zu ändern, kann sich nun jeder und jede der Erzähl- und Lesegemeinschaft von "Raconter la vie" anschließen. Monsieur Barthélémy berichtet von seiner Arbeit mit behinderten Kindern in einer Schule, Madame Séjourné von ihrer Buchhandlung in einem Pariser Vorort, die sie Anfang des Jahres schließen musste. Und der 27-jährige Schulabbrecher Anthony erzählt, wie er sich in Lyon als Lagerarbeiter durchschlägt: drei Geschichten von vielen, die auf dem Internet-Portal zu lesen sind. Anthonys Erfahrungsbericht aus den Lagerhallen der Logistikbranche gibt es auch als Taschenbuch.
    In seinem Manifest über das "Parlament der Unsichtbaren" fordert Pierre Rosanvallon eine "narrative Demokratie" und erinnert an die enorme politische Bedeutung der Literatur in Frankreich, insbesondere des Sozialromans im 19. Jahrhundert.
    "Zum Aufbau der Demokratie im 19. Jahrhundert führte natürlich das allgemeine Wahlrecht. Aber besonders in Frankreich spielten auch Romane, Gedichte und die Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle für den sozialen Zusammenhalt. Wer von der Geschichte der Demokratie in Frankreich redet, muss auch von Michelet, Victor Hugo oder Balzac reden."
    Der Verweis auf so prominente Vorläufer in der Weltliteratur kommt nicht von ungefähr. "Raconter la vie" hat einen hohen Anspruch, was die Qualität der veröffentlichten Texte angeht. SMS- oder Twitterstil sind tabu, ebenso politische Meinungsäußerungen. Gefragt sind detaillierte Beobachtungen aus dem Alltag, Porträts, genaue Situationsbeschreibungen.
    Zu manchen Themen werden deshalb auch gezielt Aufträge an Sozialwissenschaftler oder Schriftsteller vergeben, erklärt die Historikerin Pauline Peretz, die die Buchreihe gemeinsam mit Pierre Rosanvallon herausgibt.
    "Wir planen zum Beispiel ein Buch über Autobahnraststätten, weil das so exemplarische Orte oder vielmehr Nicht-Orte des sozialen Miteinanders sind. Da ist es besser, einen Schriftsteller zu beauftragen, um diese ganz besondere Atmosphäre einzufangen."
    Die Idee hinter diesem großen sozialen Schreib- und Beschreibungsprojekt ist nicht neu. Ein Vorläufer war zum Beispiel in den 90er-Jahren "Das Elend der Welt", die berühmte Studie des Soziologen Pierre Bourdieu über das alltägliche Leiden an der Gesellschaft. Oder auch – außerhalb Frankreichs – das "Federal Writers' Project", mit dem die Roosevelt-Administration nach der Wirtschaftskrise von 1929 ein großes Porträt der US-amerikanischen Gesellschaft initiierte.
    Ob der von Pierre Rosanvallon und seinen Mitstreitern jetzt lancierte "wahre Roman der französischen Gesellschaft" Erfolg haben und tatsächlich eine neue "narrative Demokratie" in Frankreich begründen wird, kann allerdings niemand vorhersagen.
    "Die Zeit drängt, sagt Pierre Rosanvallon. Denn überall in Europa sind Populismus und Rechtsextremismus auf dem Vormarsch. Da können unsere Bücher und das Internetportal nur einen kleinen Beitrag leisten. Wir hoffen aber, dass unsere Energie viele anstecken wird."