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Frankreich
Experiment im Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit

Frankreich lässt sich gesetzlich auf ein Arbeitsmarkt-Experiment ein: In zehn Testregionen sollen Langzeitarbeitslose unbefristete Vollzeitstellen mit Mindestlohnanspruch erhalten. Über eigens gegründete "Firmen für Arbeit" besteht dann auch ein Rechtsanspruch auf diese Stellen.

Von Bettina Kaps | 11.04.2016
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    Mit einem Experiment in zehn Testregionen will Frankreich seine Langzeitarbeitslosen in Jobs bringen (imago/Philippe Sterc/Panoramic)
    Frankreich leidet seit 40 Jahren unter Massenarbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenrate beträgt dauerhaft um die zehn Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat einen Höchststand erreicht: Fast 2,5 Millionen Menschen suchen seit über einem Jahr einen Job. Nun hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, um eine neue Methode zum Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit einzuführen. Beide Kammern haben sich einstimmig dafür ausgesprochen. Das "Gesetz für ein territoriales Experiment zur Beseitigung der Langzeitarbeitslosigkeit" wurde auf Betreiben der Hilfsorganisation ATD Quart Monde erlassen.
    Arbeit für alle - das klingt utopisch. Aber nicht für Patrick Valentin von der Hilfsorganisation ATD Quart Monde. Der 72-Jährige macht eine einfache Rechnung auf.
    "Wir stellen fest: Es gibt Leute, die arbeiten wollen. Es gibt Arbeit, die für die Gesellschaft sehr nützlich ist, aber nicht geleistet wird. Und es kostet sehr viel Geld, dass man so vielen Menschen einen Job verweigert."
    De Hilfsorganisation kalkuliert, dass der Staat für jeden Erwerbslosen 15.000 bis 20.000 Euro pro Jahr ausgibt. Mit diesem Geld sollen nun Jobs geschaffen werden, die bislang keine Firma und kein Verein anbieten. Das neue "Gesetz für ein Experiment zur Beseitigung der Langzeitarbeitslosigkeit" stellt einen staatlichen Fond mit zehn Millionen Euro bereit, aus dem diese Stellen teilweise bezahlt werden. Den Rest soll die Arbeit einbringen.
    Langzeitarbeitslose haben Anspruch auf Vollzeitstelle
    Fünf von insgesamt zehn Testregionen in Frankreich machen jetzt den Anfang. Sie gründen dieser Tage sogenannte "Firmen für Arbeit", die den Langzeitarbeitslosen nicht etwa Minijobs anbieten werden, sondern unbefristete Vollzeitstellen, gezahlt wird der Mindestlohn. Mehr noch: In den Testregionen hat ausnahmslos jeder Langzeitarbeitslose Anspruch auf einen solchen Job, sagt Patrick Valentin, und strahlt übers ganze Gesicht: Zwei Jahrzehnte lang hat er darauf hingearbeitet, dass sein Konzept Realität wird.
    "Wir verbieten uns, unter den Arbeitssuchenden eine Auswahl zu treffen. Wir verpflichten uns vielmehr, alle Personen einzustellen, die sich melden. In einer so reichen Gesellschaft wie Frankreich muss Arbeit endlich als Recht betrachtet werden."
    Das Experiment könne nur gelingen, wenn die Initiative von der Basis ausgehe und die örtlichen Akteure, also Politiker, Unternehmer und Vereine, überzeugt seien, dass Arbeitslosigkeit unzulässig ist, sagt Valentin. In einem zweiten Schritt müssten die künftigen Angestellten kontaktiert, befragt und gehört werden.
    Das bretonische Dorf Pipriac ist bereits Testregion. Dort lebt Marie-Hélène Marand. Die 54-Jährige ist schon so lange arbeitslos, dass sie die Jahre nicht mehr zählt. Dabei hat sie viel Erfahrung: Marand hat acht Jahre lang als Sprechstundenhilfe gearbeitet, war Kinderfrau, technische Assistentin beim Hörfunk, Kellnerin. Ans Arbeitsamt glaubt sie nicht mehr. Die Initiative "Territorien ohne Arbeitslosigkeit" habe sie zuerst auch misstrauisch gemacht, sagt Marie-Helene Marand. Aber die Vorgehensweise habe sie überrascht.
    Experiment motiviert Langzeitarbeitslose
    "Sie haben uns geholt. Da habe ich gedacht: Sie brauchen uns. Sie wollten tatsächlich wissen, welche Erfahrungen und Kompetenzen wir haben, um das Projekt zu entwickeln. Bei uns gibt es rund 200 Langzeitarbeitslose, über das Projekt haben wir uns kennengelernt. Jetzt betrachten wir uns als Kollegen. Wir sind stolz, dass wir an diesem Projekt teilnehmen."
    Bertrand Deligny ist gewähltes Mitglied im Gemeindeverbund Colombey-Sud-Toulois, einer weiteren Testregion. Der Gemeindeverbund liegt in Lothringen, unweit von Nancy. Er besteht aus 39 kleinen Dörfer mit insgesamt 11.000 Einwohnern. 500 Menschen sind dort langzeitarbeitslos. Aber zu tun gebe es in ihrer Gegend mehr als genug, sagt Deligny.
    "Bei uns wird Wein angebaut – da fällt viel Arbeit an. Wir könnten Bienenzucht betreiben, außerdem eine Konservenfabrik eröffnen. Dazu müsste dann Obst und Gemüse angebaut werden. Ich glaube wirklich, dass wir eines Tages zu wenig Arbeitskräfte haben werden."
    In Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit erzielt der Front National erfahrungsgemäß besonders hohe Wahlergebnisse. Im bretonischen Pipriac konnte die rechtsextreme Partei bei den Regionalwahlen vom Dezember 30 Prozent der Stimmen einfangen, in Colombey-les-Belles sogar bei über 50 Prozent. Das Projekt "Territorien ohne Arbeitslosigkeit" fördert das nachbarschaftliche Zusammenleben. Dadurch könne es auch politische Wirkung entfalten, meint Bertrand Deligny.
    "Alles, was Bindungen schafft, tritt dem rechtsextremen Gedankengut entgegen. Der Front National propagiert die Abschottung. Aber wenn man seinen Nachbarn kennt, sich vielleicht anfreundet, dann spielt es keine Rolle mehr, ob er gelb, schwarz oder weiß ist. Wir zeigen, dass man in einer Gemeinschaft zusammen handeln kann, egal, wie unterschiedlich man ist."