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Frankreich
Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen war Zufall

Ein Schock für die Eltern: In Frankreich kamen vor gut zwei Jahren auffällig viele Säuglinge mit fehlenden Armen oder Beinen zur Welt. Eine neue Analyse kommt zu dem Schluss, dass dies wohl ein Zufall war - ähnlich wie in Gelsenkirchen, wo 2019 drei Kinder mit Handfehlbildungen geboren wurden.

Von Volkart Wildermuth | 22.01.2021
Ein Arzt im Kreißsaal hält einen neugeborenen Säugling hoch.
52 Fälle im ländlichen Frankreich in den Jahren 2009 bis 2014 - zunächst gerieten Pestizide in Verdacht (picture alliance / dpa / Goll)
Nach den ersten Berichten in Frankreich meldeten sich schnell weitere Eltern, so dass es am Ende um 52 Fälle in den Jahren 2009 bis 2014 ging. Viele davon aus ländlichen Regionen, sodass Pesitizide in Verdacht gerieten. Oder war es doch nur Zufall? Reduktionsfehlbildungen der Arme und Beine treten bei rund fünf von 10.000 Neugeborenen auf. Das klingt nach wenig, aber statistisch wären für ganz Frankreich jedes Jahr 350 Fälle zu erwarten.
06.10.2018, Frankreich: Emmanuelle Amar, Leiterin der regionalen Register für vorgeburtliche Fehlbildungen, kurz Remera genannt, in Lyon
Frankreich - Rätsel um Neugeborene ohne Arme und Hände
Jeden Tag werden neue Fälle gemeldet: Kinder, denen bei der Geburt ein Arm oder eine Hand fehlen. Um die Ursache dieser seltenen Fehlbildungen zu finden, planen die französischen Behörden eine nationale Untersuchung.
Nach einer genauen Analyse kommt eine internationale Kommission in einem ersten Zwischenbericht zu dem Schluss: Die ursprünglichen Fälle in Ain waren nicht ungewöhnlich. Anders eine kleine Häufung von Fällen an der Atlantikküste, alle in der Kleinstadt Guidel, erklärt Anke Rissmann: "Diese Initialen Häufungen waren verdächtig. Am Ende dann also drei Fälle in 18 Monaten in 2011 bis 2013."

Europaweit keine zeitliche Häufung

In späteren Jahren seien keine weiteren Fälle mehr dazugekommen, erklärt die Expertin Rissmann. Sie leitet das Fehlbildungsmonitoring in Sachsen-Anhalt, einer von zwei Stellen, die Fehlbildungen in Deutschland systematisch dokumentiert. Auf europäischer Ebene arbeiten die verschiedenen Register seit langem zusammen: "Da hat man sehr aufmerksam geguckt. Und wir konnten auch jetzt in der laufenden Datenzusammenstellung zeigen, dass die Daten für den Geburtsjahrgang 2018, die jetzt dazugekommen sind, europaweit keine zeitliche Häufung zeigen."
Das spricht gegen Ursachen wie ein neu eingeführtes Medikament oder ein neuartiges Pestizid. In Frankreich wurden die Familien nach allem befragt, was während der Anlage der Gliedmaßen in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft geschehen war. Medikamente, Aufenthalte auf Bauernhöfen, Ernährung.
Die Untersuchung sei sehr gründlich gewesen, sagt Anke Rissmann: "In diesem Bericht wird zusammengefasst, dass sie insgesamt nicht zu dem Hinweis gekommen sind, dass es eine gemeinsame Ursache dieser untersuchten Fälle gab."

Keine gemeinsamen Ursachen identifiziert

Generell gibt es eine Reihe denkbarer Ursachen für Fehlbildungen von Armen und Beinen bei Neugeborenen: Bestimmte Vorerkrankungen der Mutter, Strahlung, Bänder des Mutterkuchens, die sich um den Arm wickeln und ihn abschnüren. Das wissenschaftliche Komitee in Frankreich betont, dass es theoretisch eine Vielzahl weiterer Ursachen geben kann. Das zeigt die Auswertung von 20.000 wissenschaftlichen Artikeln. Bei drei Fällen wird es aber statistisch sehr schwer, hier jede Hypothese verlässlich zu klären.
Das gilt ähnlich auch für Gelsenkirchen. Dort wurden 2019 in einer Klinik drei Kinder mit einem fehlerhaften Handteller geboren, seitdem keine weiteren. Das Gesundheitsministerium in Nordrhein-Westfalen schreibt dazu in einer schriftlichen Stellungnahme:
"Die Perinatalstatistik wurde für das gesamte Jahr 2019 ausgewertet. Für die Fälle in Gelsenkirchen konnten keine gemeinsamen Merkmale oder möglichen Ursachen identifiziert werden."
Gelsenkirchen: Das Sankt Marien-Hospital Buer. Hier hat es eine ungewöhnliche Häufung von Neugeborenen mit Handfehlbildung gegeben.
Fehlbildungen bei Säuglingen - Suche nach der Ursache
In Gelsenkirchen wurden mehrere Kinder mit Fehlbildungen an der Hand geboren. Ob es für diese Häufung eine gemeinsame Ursache gibt, sei noch völlig offen, sagt Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth.

Viel mehr Daten könnten vielleicht Klarheit bringen

Die Wissenschaft kommt hier an ihre Grenzen. Letztlich heißt es bei 50 bis 60 Prozent dieser Fälle: Ursache unbekannt, Schicksal. Für die Familien schwer hinzunehmen. Zusätzliche Klarheit könnten hier vielleicht mehr Daten bringen, viel mehr Daten. Nach der Geburt wird zwar die Gesundheit der Neugeborenen dokumentiert, doch für die Ursachenforschung ist eine umfangreiche Untersuchung jedes einzelnen Falls und eine Vergleichsbasis Voraussetzung.
In Deutschland geschieht das nur in Sachsen-Anhalt und in Mainz. Anke Rissmann würde sich bundesweite Studien wünschen: "Wir evaluieren auch die Versorgung, den Bedarf an zusätzlicher Betreuung, all diese Sachen. Und ich denke, dass da auch die betroffenen Familien, die ja vor ganz besonderen Herausforderungen stehen, dann davon profitieren, wenn wir unsere Arbeit gut machen."