
Die Erinnerung an den 13. November 2015 ist bei Catherine Teissier noch sehr lebendig. Kurz nach den ersten Schüssen in Paris wurden die Germanistin und ihr Mann von ihrem Sohn via Whatsapp alarmiert. Daraufhin saßen sie die halbe Nacht vor dem Bildschirm und verfolgten, was 750 Kilometer weiter nördlich im Konzertsaal Bataclan passierte.
"Wir konnten einfach nicht glauben, dass schwerbewaffnete Menschen, die immer noch dabei waren, auf das Publikum zu schießen, reinkonnten. Vor allem nach Januar, wie war das möglich? Also, das ist meine Erinnerung."
Sehr schnell hat damals die Hochschule in Aix-en-Provence eine Veranstaltung organisiert zum gemeinsamen Gedenken und Nachdenken. Der Andrang war groß.
"Es hat uns allen gutgetan. Aber gleichzeitig war das auch für uns das Zeichen: Ok, es ist jetzt eine andere Epoche eingetreten. Wir treten in etwas anderes ein."
Anlass für Catherine Teissier, mit Volldampf ein langgehegtes Projekt umzusetzen.
"Wir wollen wissen, wie man sich so radikalisieren kann"
Im Atelier Gottferdom trifft sie ihre Mitstreiterinnen. Eine Comics-Autorin und eine junge Zeichnerin, die beide hier arbeiten. Und ihre Uni-Kollegin, Italienerin, Expertin für die sogenannte bleierne Zeit in Italien, Hochphase der Terroraktionen der Roten Brigaden. Teissier selbst forscht zur RAF. Vor allem aber studiert sie, wie jemand in pure Gewalt abdriften kann. Das möchte auch ihre Kollegin Carmella Lettieri verstehen:
"Das ist doch genau die Frage, die sich nach den Anschlägen in Frankreich seit Januar 2015 jeder stellt."
Eine Frage, die die Akademikerinnen nun mit einem Comic ergründen wollen. Dimat präsentiert erste Zeichnungen. Melanÿn feilt noch an der Geschichte. Es wird um Alessia gehen, die in Paris lebt. Und Angehörige beim Bataclan-Anschlag verloren hat. Alessia erinnert sich in der Geschichte, dass ihre Tante 1977 bei den Studentenstreiks in Bologna gewesen war. Bei einem brutalen Polizeieinsatz kam damals ein Student ums Leben. Mancher Kommilitone ging daraufhin in den bewaffneten Untergrund. Alessia nun beamt sich mit ihrem Smartphone zurück ins Jahr 1977, nach Bologna, erklärt Comics-Autorin Melanÿn:
"Sie landet mitten in einer Kundgebung und lernt einen jungen Mann kennen, der ihr da raushilft: Peter. Nach und nach begreift Alessia, dass Peter ein RAF-Mitglied ist. Und einen Bombenanschlag plant. Alessia hat Gelegenheit, mit vielen Studenten zu diskutieren, deren Meinungen kennenzulernen. Und sie tut alles dafür, Peter davon abzuhalten, die Bombe zu zünden."
Die Geschichte soll als Buch und interaktiver Comic im Netz erscheinen
Eine Geschichte, die als Buch und auch im Internet erscheinen wird. Da sollen die User Gelegenheit haben, mittels Mausklick tief in die Historie einzusteigen. Und sie sollen Argumente entwickeln, Peter von seinem Terroranschlag abzubringen. Als Lernerfolg erwünscht sich Catherine Teissier, dass die jungen User dann Parallelen ziehen zur islamistischen Gewalt. Bewusster die heutigen Ereignisse zu verstehen versuchen:
"Interessanterweise vergleicht man in der französischen wie auch in der deutschen Presse die heutigen Terrorakte regelmäßig mit der 'bleiernen Zeit' des Linksextremismus. Gemeinsam ist den beiden Epochen die Radikalität. Und ein Jahr nach den Attentaten in Paris fragen sich zunehmend Experten, ob der Islamismus wirklich so wichtig ist für den Versuch, zu verstehen, was derzeit passiert."
Welche Rolle spielen Wut und Verzweiflung über Missstände?
Vielleicht, sinniert die Forscherin, erklärten sich die heutigen Terroranschläge junger Europäer eher mit der Wut und der Verzweiflung über gesellschaftliche Missstände. Der Comic solle helfen, Mechanismen der Radikalisierung aufzudecken, sagt Autorin Melanÿn:
"Peter repräsentiert all das, was Alessia zu hassen gelernt hat, weil sie im Bataclan Angehörige verlor. Und gleichzeitig bringt Peter ihr die Antwort auf die Frage, die sie seit dem Attentat umtreibt - wie man bloß so in die Gewalt abdriften kann. Peter ist die Antwort."
Für ihr Projekt haben die Verantwortlichen Fördergelder bei der EU beantragt. Sie wollen möglichst viele junge Leute ansprechen.