Mittwoch, 24. April 2024

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Frankreichs Europaministerin warnt vor zunehmendem Antisemitismus

Jürgen Liminski: Heute Abend treffen in Paris die beiden neuen Generalsekretäre der deutsch-französischen Kooperation zusammen. Auf deutsche Seite ist das der Staatsminister im Auswärtigen Amt Hans Martin Bury, auf der französischen Madame Noelle Lenoir, die gleichzeitig Europaministerin im Quai d'Orsay ist. Die Zuständigkeitsbereiche von Madame Lenoir ergänzen sich inhaltlich. Wir haben sie in ihrer übrigens dem Premierminister zugeordneten Funktion als Generalsekretärin der deutsch-französischen Kooperation befragt, wegen der sprachlichen Umstände natürlich vor der Sendung. Die erste Frage lautete, die freie Welt, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika stehen im Krieg gegen den internationalen Terrorismus. Wo steht Europa, was ist die Rolle Europas in diesem Kontext?

24.11.2003
    Noelle Lenoir: Wir kommen nicht umhin, uns in diesem Kampf zu engagieren, tun es auch und ich würde sagen, das Ziel Europas ist es ganz allgemein, jeder Art von Gewalt einen Riegel vorzuschieben, allen Handlungen Einhalt zu gebieten, die unsere Kultur und unsere Lebensweise vergiften. Die Sicherheit Europas und seine Verteidigungskapazität hat in diesem Sinn eine außerordentlich hohe Dringlichkeit und ich glaube schon, weil die Anschläge des Terrorismus immer näher kommen, dass wir in diesem Bereich schneller vorankommen müssen.

    Liminski: Es ist kein Geheimnis, dass die Europäer zum Teil eine sehr kritische Haltung gegenüber der amerikanischen Politik im Mittleren Orient und vor allem gegenüber Israel einnehmen. Der israelische Außenminister traf erst neulich mit seinen europäischen Amtskollegen zusammen, um aufgeregte Geister zu beschwichtigen. Sehen Sie eine Renaissance des Nationalismus oder auch des Antisemitismus in Europa?

    Lenoir: Es ist leider ein Wiedererstarken des Antisemitismus zu beobachten, ebenso eine bestimmte Form von Nationalismus. Als ich eben auf die Vergiftung unserer europäischen Kultur und Lebensweise hinwies, da dachte ich an Stefan Zweig, der genau von jenem ausgrenzenden Nationalismus sprach, jener Plage, die die Blüte unserer Kultur vergifte. Ich habe den Eindruck, dass dieses Ungeheuer uns wieder auflauert und in seinem Schatten auch der Antisemitismus. Ganz gleich, wie die internationale Politik verläuft, nichts rechtfertigt die Rückkehr des Antisemitismus. Im Gegenteil, er ist immer und überall zu verurteilen. Präsident Chirac hat das auch schon wiederholt getan. Europa muss hier zusammenstehen. Derzeit wird in Brüssel unter der Federführung von Kommissar Vitorino, den ich erst vor ein paar Tagen noch getroffen habe, ein Text debattiert, eine Richtlinie gegen Ausländerhass, Rassismus und Antisemitismus zu formulieren. Einige Staaten bremsen noch seine Annahme, aber es ist dringend, dass Europa hier ein Zeichen setzt und sich klar positioniert, indem es diesen Text endlich annimmt.

    Liminski: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Bürokratisierung eines technokratischen Europa und der Entfremdung des einfachen Bürgers von den europäischen Institutionen einerseits und dieser Renaissance des Nationalismus auf der anderen Seite?

    Lenoir: Der Nationalismus und der Hass auf den anderen, der Rassismus sind Reflexe, die in allen Gesellschaften vorkommen. Ich glaube nicht, dass man Europa dafür verantwortlich machen kann, schließlich haben wir auch in allen Ländern und Nationen größere Verwaltungsapparate und eine gewisse Bürokratie. Anders verhält es sich dagegen mit den Wirkungen der Globalisierung. Sobald irgendwo auf dem Planeten ein Ereignis stattfindet, wird darüber berichtet. Das soll auch so sein. Aber das geschieht immer öfter auf eine die Emotionen aufputschende, abqualifizierende Weise. Hier hat Europa einen Auftrag. Es muss diesen Effekten der Globalisierung eine menschliche Antwort entgegen setzen, um dem Gefühl, alles gehe den Bach herunter, eine Sicherheit zu bieten.

    Liminski: Madame, Sie schlagen elf Maßnahmen für eine neue Zivilgesellschaft, eine neue Bürgerlichkeit in Europa vor. Was ist das Ziel dieses Maßnahmenkatalogs? Wollen Sie ein Gefühl des europäischen Patriotismus erwecken?

    Lenoir: Genau das ist es. Europa kann nicht ohne den Bürger aufgebaut werden. Europa wurde von den Bürgern und für seine Bürger gemacht, allerdings ohne ihre direkte Beteiligung und Mitbestimmung. Vor allem im Gespräch mit jungen Leuten stelle ich immer fest, dass es ein diffuses Europagefühl gibt, das auf seine Konkretisierung wartet. Wir sollten schon bei den Kleinkindern und spätestens in der Grundschule das Gefühl fördern, zu dieser europäischen Gemeinschaft zu gehören, zum Beispiel durch Sprachunterricht, aber auch im Geschichts- und Erdkundeunterricht, durch Streifzüge durch die Literatur, Kunst und Kultur der Nachbarn. Auch die Erweiterung Europas ist eine großartige Gelegenheit. Gerade jetzt, da die Welt sich bedroht fühlt, müssen die jungen Menschen das Gefühl haben, dass sie zu dieser europäischen Gesellschaft gehören.

    Liminski: Was kann das deutsch-französische Tandem in diesem Zusammenhang leisten? Man redet hier und da von einer Fusion der beiden karolingischen Kernstaaten Deutschland und Frankreich, ist das überhaupt realistisch?

    Lenoir: Es geht nicht um eine Fusion im institutionellen Sinn, also aus zwei Staaten einen zu machen. Das wäre ein großes Missverständnis. Es geht einfach darum, den Geist der Zusammenarbeit zu beleben, der zur Zeit der Aussöhnung nach dem Krieg vorherrschte, um aus diesem Geist heraus auch den anderen Ländern und Menschen in Europa Vorschläge zu unterbreiten, die sie mittragen können. Es geht also in keinster Weise um eine deutsch-französische Exklusivität, die die anderen ausschließt, im Gegenteil. Ich bin davon überzeugt, dass diese beiden Länder die historische Aufgabe haben, Europa seiner Bestimmung zuzuführen, nämlich die Arme weit zu öffnen, damit die anderen in Europa, die neuen Beitrittsländer, aber auch die jetzigen 15 Länder sich alle in Europa wirklich wie zu Hause fühlen.

    Liminski: Brauchen wir dafür eine Neuauflage des Elysée-Vertrags oder ist der Freundschaftsvertrag von 1963 noch nicht ausgeschöpft?

    Lenoir: Ich denke, wir sollten im Rahmen des Elysée-Vertrags fortfahren. Er ist noch nicht ausgeschöpft. Er setzt Akzente im Bildungswesen, bei Kulturfragen, bei Sicherheit und Verteidigung. Natürlich sind die Aufgaben und Herausforderungen, die sich uns stellen, ganz anders als vor 40 Jahren, siehe den Terrorismus. Dennoch glaube ich, dass die Möglichkeiten des Vertrags noch nicht ausgeschöpft sind.

    Liminski: Wie sieht das konkret aus, was sind die nächsten Ziele des deutsch-französischen Tandems?

    Lenoir: Als Generalsekretär der deutsch-französischen Kooperation haben mein Amtskollege Hans Martin Bury und ich die Aufgabe, die Verhandlungen zu koordinieren, die zur Tagesordnung des gemeinsamen deutsch-französischen Ministerrates führen. Das ist eine neue Formel der Kooperation. Der gemeinsame Ministerrat trifft operationelle Entscheidungen. Für den nächsten Rat im kommenden Frühjahr arbeiten wir gerade einen präzisen Arbeitsplan aus. Dabei geht es um Initiativen für mehr Wachstum und zur besseren Wettbewerbsfähigkeit sowie um den Kampf gegen die Desindustrialisierung Europas und wir arbeiten an Maßnahmen, um Europa auch im sozialen Bereich krisenfester zu machen. Damit haben wir schon in Poitiers begonnen. Es geht dabei auch darum, dass die EU uns bei den Reformen abstützt, damit das europäische Sozialmodell erhalten werden kann.

    Liminski: Die Demographie in Europa beschert den Sozialmodellen und Sozialsystemen ziemliche Probleme. Glauben Sie, dass sie sich auch als eine Bremse für das Wachstum und ganz allgemein als Bedrohung für den Wohlstand entpuppen könnte?

    Lenoir: Sie ist es bereits. Das Defizit drückt auf Wachstum und Wohlstand. Wir brauchen einen neuen Sozialpakt. Nach dem ersten Weltkrieg schlossen die Bürger und ihre jeweiligen Staaten in Europa einen Pakt, der zu den umlagefinanzierten Systemen bei Gesundheit, Rente und Arbeitslosigkeit führte. Dieser Pakt muss heute erneuert werden, denn das demographische Defizit beeinträchtigt nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaften, sondern es ist auch nicht mehr tragbar, dass vor allem eine bestimmte Kategorie von Bürgern, nämlich die Angestellten mit mittleren und höheren Einkommen, den Wohlstand aller trägt und besorgt. Die Reserven sind aufgebraucht. Das führt zu Konflikten innerhalb der Generationen, Konflikte, die die gesellschaftliche Solidarität in Frage stellen. Deshalb müssen wir die Reformen der Sozialsysteme in Deutschland und Frankreich angehen. Sie sind notwendig, um wie gesagt unser Sozialmodell zu retten.

    Liminski: Sind diese Reformen ohne strukturelle Hilfen für die berühmte Keimzelle der Gesellschaft, mithin also die demographische Quelle, die Familie, möglich?

    Lenoir: Unsere Geburtenquote in Frankreich ist mit 1,9 eine der höchsten in Europa. Sie reicht trotzdem nicht aus. Sie ist deswegen günstiger als in Deutschland, weil wir seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus historischen Gründen eine recht aktive Familienpolitik entwickelt haben, mit Dienstleistungen für die Frauen, die es den Frauen mit Kindern, auch Alleinstehenden, ermöglichen oder wenigsten erleichtern, das Berufsleben außer Haus und die Familienarbeit zu einer positiven Summe zu addieren. All diese Maßnahmen, nicht nur die flächendeckenden Betreuungseinrichtungen, sondern auch zahlreiche finanzielle Zuwendungen, haben eine soziale Umwelt geschaffen, die den Schutz und das Ansehen der Frauen mit Kindern und der Familien ganz allgemein weitgehend garantiert. Ich denke, dieses Modell, das im Detail noch weiter entwickelt werden muss, ist ein gutes Modell und hat für Europa einen gewissen Beispielcharakter, so wie auch manche skandinavischen Modelle. Es geht natürlich nicht um Frankreich oder ein anderes Land, sondern um die freie Wahl eines Lebensentwurfs heute. Diese Freiheit müssen wir den Menschen ermöglichen. Auch das gehört zum Sozialmodell für Europa.

    Liminski: Neue Gefahren und Chancen für Europa, das war die französische Europaministerin und Generalsekretärin der deutsch-französischen Kooperation Noelle Lenoir. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.