Uterwedde: Guten Tag. Ich denke, das ist eindeutig Premierminister Jospin, der von diesen Daten profitieren wird. Er kann es auf die Fahnen einer sehr respektablen fünfjährigen Regierungsbilanz schreiben. Er hat mit einer sehr geschickten Balance aus traditioneller und auch modernistisch-liberaler Politik tatsächlich die guten Zahlen in Frankreich geschaffen und das ist eine Pluspunkt in der jetzt beginnenden Wahlkampfkampagne von Lionel Jospin.
Geers: Zeichnet sich denn in Frankreich ein eindeutiges Wahlkampfthema ab, so wie es in Deutschland mit den Themen Staatsverschuldung oder Arbeitslosigkeit der Fall zu sein scheint?
Uterwedde: Das kann man nicht ganz so sagen. Im Augenblick ist das Thema Innere Sicherheit ein sehr großes Thema, wo sich beide Lager bemühen, das Sicherheitsbedürfnis der Franzosen zu artikulieren und ihm entgegen zu kommen. Sicherlich wird auch Wirtschaft und Beschäftigung weiterhin im Mittelpunkt stehen, denn, wie Sie auch gehört haben, sind die Wirtschaftszahlen zwar besser als in Deutschland, aber die Arbeitslosigkeit steigt im Augenblick. Das wird sicherlich ein zentraler Punkt sein. Soziale Gerechtigkeit kann man nennen. Was weniger Thema sein wird, obwohl es wichtig ist, ist Europa: Hier sind beide Kandidaten ein bisschen gehandikapt durch Europa-skeptische Positionen im eigenen Lager, und man will hier nicht zu früh auch mögliche Verbündete für den zweiten Wahlgang verprellen.
Geers: Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, Herr Uterwedde, Jacques Chirac und Lionel Jospin, haben lange gezögert, ihre Kandidatur offiziell bekannt zu geben. Chirac tat es erst vor zehn Tagen, Premierminister Jospin wartete noch länger, nämlich bis gestern Abend. Was steckt denn dahinter?
Uterwedde: Nun, beide wollten von ihrem Amtsbonus profitieren. Sie wollten so lange wie möglich in den Augen der Franzosen von ihrem Präsidenten- bzw. Premierministeramt profitieren, bevor sie in die Arena der Auseinandersetzung und der Polemik hinunter steigen. Vorbild dabei ist ein bisschen Francois Mitterand gewesen, der 1988 mit einem sehr kurzen Blitzwahlkampf sehr erfolgreich aus dieser Auseinandersetzung hervor gegangen ist.
Geers: Blicken wir noch einmal auf die Kandidaten, Herr Uterwedde. Da ist zunächst Amtsinhaber Jacques Chirac, der innenpolitisch ein bisschen unter Druck steht wegen Parteispendenaffären. Es heißt, Millionensummen sollen in die Kassen seiner Partei, der RPR, geflossen sein, als Jacques Chirac Bürgermeister von Paris war. Belasten diese Affären den Staatspräsidenten im Wahlkampf oder ist das für die Franzosen kein Thema?
Uterwedde: Es sind schon Kratzer am Image von Chirac und das Wiederaufkochen dieser Affären durch Herrn Schuller, der kürzlich wieder nach Frankreich gekommen ist, hat ihm sicherlich nicht gepasst. Auf der anderen Seite sind die Franzosen es ein bisschen Leid, ewig über die Affären diskutieren zu wollen, und so dürfte es Chirac wohl gelingen, dieses Thema an den Rand zu drängen. Er wird sicherlich mit den Pfunden wuchern, dass er in der emotionalen, menschlichen Wärme im direkten Kontakt mit den Franzosen und als Energiebündel durchaus einige Vorteile gegenüber Lionel Jospin hat. Allerdings wird er eben in den Augen der Franzosen auch als sprunghaft angesehen, als nicht immer sehr zuverlässig in seinen Überzeugungen. Und dieses Sprunghafte ist etwas, was ihm sicherlich vom Gegenlager entgegen gehalten wird, während Jospin eben gerade sozusagen mit seiner Kompetenz, seiner Verlässlichkeit und seiner Glaubwürdigkeit versuchen wird, Punkte zu machen.
Geers: Jospin war ja 1995 Verlegenheitskandidat. Diesmal steht er etwas besser da: Sie erwähnten die gute Wirtschaftsbilanz, die er nach fünf Jahren vorlegen kann. Wagen Sie heute eine Prognose wie das Rennen ausgeht?
Uterwedde: Nein. Man hat in den letzten Wochen Chirac immer leicht vorne gesehen. Ich halte den Ausgang für vollkommen offen. Es wird jetzt wirklich drauf ankommen, in den nächsten Wochen für beide Kandidaten überzeugend den Franzosen zu sagen, welches Projekt sie für Frankreich in den nächsten Jahren vorhaben. Hier haben beide Kandidaten Qualitäten, auch teilweise Schwächen. Jetzt eine Prognose zu wagen, wäre wirklich vermessen. Es werden wirklich spannende Wochen in Frankreich werden.
Geers: Henrik Uterwedde, der stellvertretende Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg war das. Vielen Dank nach Ludwigsburg.