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Franz-Josef Brüggemeier
"Grubengold"

"Kohle schuf die Welt, in der wir leben", schreibt der Wirtschaftshistoriker Franz-Josef Brüggemeier in seinem Standardwerk über die Geschichte der Kohle. Sein Buch ist auch ein Abschied von einem Rohstoff, der jahrhundertelang die deutsche Wirtschaft antrieb.

Von Moritz Küpper | 30.07.2018
    Der Förderturm der Zeche Lohberg in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen)
    Für den Wirtschaftshistoriker Franz-Josef Brüggemeier war Steinkohle der Rohstoff eines ganzen Zeitalters (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch)
    Das Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop, mitten im Ruhrgebiet. Besuchergruppenfahrt, es geht in knapp 1300 Meter Tiefe. Dahin, wo seit Jahrzehnten Kohle gefördert wird - bis zum Ende dieses Jahres. Dann stellen die letzten beiden deutschen Steinkohlenzechen, eben Prosper-Haniel in Bottrop und die Zeche Ibbenbüren, ihren Betrieb ein - und eine Ära endet.
    Kohle im Zentrum
    Denn die Steinkohle war mehr als nur Brennmaterial, sie war der Rohstoff eines ganzen Zeitalters auf dem Weg in die Moderne, sagt der Wirtschaftshistoriker Franz-Josef Brüggemeier:
    "Das war in den letzten 150 Jahren die zentrale Energieressource, der wichtigste Rohstoff. Man kann schon sagen, in jedem Bereich - ist es Chemie, ist es Industrie, ist es Alltag, ist es die Heizung der Leute zuhause, sind es beide Kriege, sind es Friedensverhandlungen nach dem Krieg - wo immer Sie hingucken, stoßen Sie auf Kohle. Nicht als so einen Nebenaspekt, sondern wenn sie genau hinschauen: Es war fast immer im Zentrum. Das wissen wir heute praktisch nicht mehr. Und das war sozusagen der Anlass. Der Anlass ist relativ profan: Zwei Zechen schließen, was nun schon mal für das Ruhrgebiet wichtig genug ist, aber darüber hinaus verbirgt sich dahinter eine gesamteuropäische Geschichte."
    Und es ist diese Geschichte, die Franz-Josef Brüggemeier, Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Freiburg, auf 458 Druckseiten aufgeschrieben hat.
    Die Arbeit an dem Buch sei für ihn selbst auch eine Reise in die eigene Vergangenheit gewesen, sagt der Autor:
    "Durch einen historischen Zufall bin ich auch ungefähr 500 Meter oder einen Steinwurf weg von der Zeche geboren, die jetzt auch als letzte betrieben wird und die demnächst schließt. Die ich auch kannte selbstverständlich, allerdings gar nicht so wie heute. Damals waren Zechen für andere eher nicht zugängliche Gebiete. Heute kann man ja überall hin oder die freuen sich ja sogar, wenn man als Besucher kommt. Damals war das alles von Mauern umringt."
    Vielfältige Geschichte und Lebenswerk
    Franz-Josef Brüggemeier, Jahrgang 1951, studierte Geschichte, Sozialwissenschaften und Medizin. Arbeite als Arzt, ging dann - als Historiker - an die Universitäten in Hagen, Hannover, Freiburg und Harvard in den USA. Erfahrungen, die nun in diesem Buch mündeten, das er selbst als Lebenswerk bezeichnet, da es nicht nur eine Rückkehr zu seinen eigenen Wurzeln ist, sondern auch Ergebnis seines akademischen Lebens:
    "Weil ich Umweltgeschichte gemacht habe, ich habe auch mal Sportgeschichte gemacht, dann habe ich mich mit Chemie-Industrie befasst, ich habe auch Geschichte Großbritanniens gemacht, also das andere Land neben Deutschland, wo Bergbau sehr, sehr wichtig war. Und wenn man das unter verschiedenen Aspekten jeweils betrachtet, aber dann zusammenführt oder überlegt, merkt man, wie viele Zusammenhänge bestehen."
    Elf Kapitel, chronologisch aufgesetzt entlang der gut zwei Jahrhunderte, von der - Zitat - "ungeliebten Kohle" und der "Muskelkraft und Erfahrungen" über "Streiks, Gewerkschaften und Demokratie" bis hin zu "Abschied und Erbe". Diese Kapitel erzählen vielfältige Geschichte und sind zugleich ein Nachruf auf den Wegbereiter der Industriegesellschaft, wie Franz-Josef Brüggemeier im Vorwort schreibt:
    "Kohle schuf die Welt, in der wir leben. Sie war die Grundlage der europäischen Industrialisierung, ermöglichte den Aufstieg Deutschlands zur Großmacht und festigte die Herrschaft der europäischen Mächte über weite Teile der Welt; dieser Brennstoff verwandelte die beiden Weltkriege in blutige Materialschlachten, die fast achtzig Millionen Tote forderten, und stellte parallel dazu die Stoffe zur Verfügung, aus denen die chemische Industrie betörende Farben, neue Medikamente und die ersten Plastikprodukte schuf; Kohle ließ einen Bergbau entstehen, der beeindruckende technische Leistungen hervorbrachte, auf seinem Höhepunkt mehr als zwei Millionen Beschäftigte zählte, Zuwanderern aus ganz Europa eine neue Perspektive bot und zugleich ganze Landschaften umpflügte; sie etablierte unsere Abhängigkeit von der Energie, ohne die moderne Industriegesellschaften nicht überleben können; sie verursachte gravierende Umweltbelastungen, von denen CO2 aktuell eine globale Bedrohung bedeutet; und Kohle war Anlass erbitterter Klassenkämpfe, aber auch Motor demokratischer Entwicklungen und leitete nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Einigung ein. Anders ausgedrückt: Kohle hat unsere Welt verändert, im Positiven wie im Negativen."
    Fromme Bergleute
    Franz-Josef Brüggemeiers nüchterner, sachlicher Blick ist wohltuend in einem von Nostalgie, Wehmut und Verklärung geprägten Umfeld. Er beleuchtet in seinem Buch verschiedene Aspekte und manche davon sind überraschend, etwa wenn es um Bergbau und Religion geht:
    "Bergleute galten als besonders fromm, auch abergläubisch; einiges spricht dafür, dass Glauben und Riten ihr Leben angesichts der gefährlichen Arbeit und der dunklen Welt unter Tage erleichterten. Im Saarland machten sie nach Verlassen der Wohnungen ein Kreuzzeichen und beteten anschließend auf dem Weg zur Zeche still den Rosenkranz. 1893 forderten ihre Kollegen in Oberschlesien, vor Beginn der Arbeit 'eine halbe Stunde für das tägliche Morgengebet einzuführen'. […] In Nordfrankreich wiederum bezeichneten sich Bergleute und ihre Frauen 1895 zwar nicht mehr als regelmäßige Kirchgänger. Doch zum Barbarafest, der Schutzheiligen der Bergleute, waren die Kirchen voll."
    Neben Statistiken, Abbildungen und Karten liefert Brüggemann auch ein Glossar mit Begriffen wie Gedinge, Flöz oder Streb. Sein Buch erscheint pünktlich zum Abschied von der Kohle, der im Ruhrgebiet überall präsent ist, mit Ausstellungen, Empfängen oder "Danke, Kumpel"-Festen.
    Ein Standardwerk
    Allerdings wolle er das Thema nicht überhöhen, sagt Franz-Josef Brüggemeier. Vielerorts sei dieser Abschied längst vollzogen:
    "Ich glaube nicht, dass das grundlegend an die, wie das immer so schön heißt, Identität der Leute geht, sondern einer der Aspekte ist, die ihr Leben geprägt haben oder über die sie gerne mehr wissen wollen. Und dann ist aber auch gut."
    Doch, dass diese Geschichte eines ganzen Zeitalters auch in Jahren und Jahrzehnten erhalten bleibt, wenn keine Besuchergruppe mehr aus der Zeche Prosper-Haniel nach oben fährt, dafür sorgt auch dieses lesenswerte Standardwerk.
    Franz-Josef Brüggemeier: "Grubengold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute",
    C.H. Beck, 458 Seiten, 29,95 Euro.