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Franz Rosenzweig und Martin Luther
"Jüdische Schizophrenie im Umgang mit Luther"

Martin Luthers Judenhass war vor 100 Jahren durchaus bekannt. Dennoch verehrten ihn viele Juden - besonders liberale wie Franz Rosenzweig. Der jüdische Bibelübersetzer verehrte den Kollegen wegen seiner Sprachgewalt. Konnten oder wollten Juden die Ambivalenz des Reformators nicht sehen?

Von Thomas Klatt |
    In der Ausstellung "Luther und die deutsche Sprache" ist am 04.05.2016 auf der Wartburg in Eisenach (Thüringen) eine Bibelausgabe, gedruckt 1700 in Nürnberg, in der Schaubibliothek zu sehen.
    Luther-Bibel aus Nürnberg (um 1700) (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Erstaunlich! Martin Luther war nicht nur die zentrale Figur im deutschen Protestantismus, sondern wurde auch im Judentum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hoch verehrt. Der Reformator wurde von vielen Juden als Lichtgestalt wahrgenommen, weiß der jüdische Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik.
    "Weil für das deutsche Judentum, zumal das deutsche liberale Judentum, Martin Luther ein Vorkämpfer der Geistesfreiheit und des Geistes der Schrift und nicht so sehr der aus ihr erwachsenen Praxis gewesen ist."
    Martin Luther habe mit seiner Bibel dem deutschen Volk eine gemeinsame Sprache geschenkt und damit die Befreiung von der römisch-katholischen Bevormundung eingeläutet. Vor allem liberale Juden betrachteten in ihrer Auseinandersetzung mit der jüdischen Orthodoxie die Protestanten damit als natürliche Verbündete, weil diese einen ähnlichen Kampf gegen die römisch-katholische Kirche führten. Eine distanziertere Auseinandersetzung mit Martin Luther blieb meist aus - vor allem unter liberalen Juden in Deutschland.
    "Sie haben Luther nur sehr selektiv wahrgenommen und haben überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, dass er letzten Endes alles andere als liberal gewesen ist. Er war als junger Mann nach der Hier-stehe-ich-ich kann-nicht-anders Gewissensfreiheit eingefordert. Aber als der bedeutende politische Denker, der Luther auch war, war er alles andere als ein Liberaler. Er war in der Tat der Begründer einer obrigkeitlich autoritären politischen Denkweise."
    Feinfühliger Reformator oder Judenfeind?
    Eine solch kritische Einordnung war auch nicht im Sinne des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig. 1913 noch hatte er zum protestantischen Christentum übertreten wollen. Erst nach einem langen Gespräch mit einem Verwandten entschied er sich, Jude zu bleiben. 1926 feierte er in seinem Essay "Die Schrift und Luther" die Feinfühligkeit des Reformators, der viele Eigenheiten des Hebräischen in der deutschen Übersetzung erhalten habe. Dank Luther und seiner Theologie des Priestertums aller Gläubigen seien Juden und Evangelische gemeinsam berufen, in Predigt und Gottesdienst Wortverwalter der Bibel zu sein.
    "Er sah in Luthers Bibelübersetzung die Heilige Hochzeit zwischen deutschen und jüdischem Geist und ihm kam es in seiner gemeinsam mit Martin Buber angegangenen Bibelübersetzung darauf an, den Geist der hebräischen Sprache, soweit überhaupt möglich, in der deutschen Sprache abzubilden."
    Wenn Luther aber mit seiner Bibel in deutscher Sprache so genial war, wozu brauchte es dann eine eigene Buber-Rosenzweig-Übersetzung? Die evangelische Theologin Gesine Palmer.
    "Weil Luther nur als Christ genial ist. Es braucht jetzt eine gleich geniale jüdische Übersetzung. Mendelssohn, Zunz, die gibt es ja alle schon. Das gefällt ihm alles nicht, weil er meint, die haben alle sich noch nicht genügend entluthert, haben sich alle noch nicht genügend in die hebräische Sprache vertieft. Er möchte das Hebräisch in der allertiefsten Tiefe, und da sieht er sich in der Tat als kongenial mit Luther."
    Luther, so Rosenzweig, habe die Hebräische Bibel im Lichte der Erlösung durch Jesus Christus übersetzt. Diese Sicht Martin Luthers lobt Franz Rosenzweig, obwohl er oder gerade weil er Jude ist. Denn seine Gegner sind nicht die Christen, sondern die Religionsverweigerer. Darin war er sich zum Beispiel einig mit Eugen Rosenstock, einem zum evangelischen Glauben konvertierten Rechtshistoriker.
    Der jüdische Historiker und Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929).
    Der jüdische Historiker und Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). (picture-alliance / dpa)
    "Rosenzweig und Rosenstock sind sich erst mal als Christ und als Jude in einer Sache einig. Ihr Gegner ist der deutsche Idealismus. Ihr Gegner ist das säkulare Denken. Ihr Gegner ist der Relativismus. Und Luther ist nicht relativistisch, sondern das ganze Gegenteil davon. Das kann man erst mal als Einigkeit festhalten. Nur er hat natürlich den falschen Inhalt aus jüdischer Sicht. Aber das ist ja Rosenzweigs große souveräne Geste, das kann man sich als Jude, wenn man bewusst Jude ist, hat man kein Problem damit den Christ Christ sein zu lassen. Nur wenn er nichts wäre, das wäre schlimm."
    "Eine gewisse Schizophrenie im Umgang mit Luther"
    Die Judenfeindschaft des späten Martin Luther wurde von vielen jüdischen Gebildeten wie Franz Rosenzweig einfach ignoriert. Micha Brumlik.
    "Rosenzweig wuchs auf in einer protestantischen Umgebung. Er schrieb sein erstes größeres Buch über Hegels Staatsphilosophie, war dann wesentlich von Schelling beeinflusst und er war ganz und gar eingebettet in das, was deutsches Denken und deutsche Philosophie in jener Zeit gewesen ist. Ich kann dazu nur sagen, dass es im Leben und Denken Franz Rosenzweigs eine gewisse Schizophrenie gegeben hat."
    Micha Brumlik (Hg.): "Luther, Rosenzweig und die Schrift. Ein deutsch-jüdischer Dialog", Europäische Verlagsanstalt, 290 Seiten, 25 €.