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Franziskus von Assisi (Teil 2)
Der Aussteiger und die Aussätzigen

Am Ende seines Lebens schrieb Franziskus von Assisi, die Begegnung mit Aussätzigen sei für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen. Manche Historiker sehen darin den eigentlichen Grund, warum er seinen früheren Lebensstil aufgegeben habe. Doch in Berichten von Zeitgenossen wird deutlich, dass man von einem längeren Prozess der inneren Verwandlung ausgehen muss.

Von Rüdiger Achenbach | 09.06.2015
    Helmut Feld, Professor vom Institut für europäische Geschichte in Mainz:

    "Der Gang unter die Aussätzigen hatte für die Bekehrung des Franziskus nicht die entscheidende Bedeutung. Der Aufenthalt unter den Leprosen blieb vielmehr eine, wenn auch nicht unwichtige, Episode. "

    Über die Zeit, die Franziskus mit den Leprakranken verbracht hat, gehen die Meinungen in der Forschung auseinander. Die Aussätzigen spielten auf jeden Fall nur für eine begrenzte Zeit eine "besondere Rolle" für Franziskus. Als später Bruder Jacobus die Aussätzigen in die Gemeinschaft der Brüder integrieren wollte, hat Franziskus dies kategorisch abgelehnt.

    "Er machte sich also mit Eifer auf den Weg und war schon bis Spoleto gekommen, um nach Apulien zu ziehen; da begann er leicht zu erkranken."

    So berichtet es die Dreigefährtenlegende. Franziskus war 1205 auf dem Weg nach Süditalien, wo er sich im Krieg auf der Seite der Truppen des Papstes gegen die Anhänger der Staufer bewähren wollte, um endlich in den lang ersehnten Ritterstand erhoben zu werden. Doch bevor er überhaupt sein Reiseziel erreicht hatte, beschloss er plötzlich über Nacht seinen Plan aufzugeben.
    Ulrich Köpf, Professor für Kirchengeschichte an der Fakultät für evangelische Theologie an der Universität Tübingen:

    "Bereits bei Spoleto brach er seine Reise ab. Was immer der Grund gewesen sein mag - er bedeutete noch keine Absage an die alten Ziele; aber er verschaffte Franziskus Gelegenheit zur Besinnung. Der Verlauf dieses Vorganges lässt sich nicht mehr rekonstruieren."

    Die alten Legenden sprechen an dieser Stelle davon, dass Franziskus während seiner Übernachtung in Spoleto im Traum eine Vision gehabt habe, die ihn zur Umkehr veranlasst hätte. Als er dann nach Assisi zurückkommt, führt er sein Leben mit denselben Gewohnheiten, wie vor seiner Abreise. Er nimmt mit seinen Altersgenossen an den üblichen Mahlzeiten und Feiern teil.

    Chiara Frugoni, Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität in Rom:

    "In den Augen seiner Familie und der Freunde musste die unverzügliche Heimkehr als Scheitern erscheinen. Denn wo waren nun die gewonnenen Schlachten, die aus dem Kaufmann einen Ritter machen sollten. Die Prahlereien waren wie Seifenblasen zerplatzt. Vielleicht um sein angeschlagenes Image wieder aufzupolieren, um indiskreten Fragen zuvorzukommen oder sein eigenes inneres Unbehagen zu verbergen, feiert Franziskus nun noch mehr mit den Freunden als zuvor."

    In dieser Zeit kommt es zur Lebenskrise. Der Versuch in den Adelsstand aufzusteigen, ist gescheitert. Der üppige Lebensstil, den er sich als Sohn sehr wohlhabender Eltern leisten kann, befriedigt ihn nicht mehr.

    Die Legenden sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass Franziskus, während er nach einem Bankett mit seinen betrunkenen Kumpanen nachts durch die dunklen Straßen der Stadt zog, ein ekstatisches Erlebnis hatte.

    "Plötzlich wurde sein Herz von einer solchen Freudigkeit erfüllt, dass er weder sprechen, noch sich rühren konnte. Er war nicht mehr imstande, etwas anders zu empfinden oder wahrzunehmen als jenes Gefühl der Freude, das ihn so weit vom leiblichen Bewusstsein hinweg trug."

    Mit dieser Form der Entrückung in den nächtlichen Straßen von Assisi wird deutlich gemacht, dass im Bewusstsein des Franziskus eine Umkehrung aller bisher geachteten Werte ihren Anfang genommen hat.

    Veit Jakobus Dieterich, Professor an der Fakultät für evangelische Theologie der Universität Hohenheim:

    "Die Legenden schmücken den Wandlungsprozess aus, gliedern ihn in Stufen, verdichten die entscheidenden Wendepunkte zu anschaulichen Szenen, die nach dem Vorbild der Bekehrungsszenen biblischer und kirchengeschichtlicher Gestalten entworfen sind."

    Begegnung mit Aussätzigen als Schlüsselerlebnis umstritten

    Franziskus hat selbst am Ende seines Lebens geschrieben, dass für ihn in dieser Zeit die Begegnung mit den Aussätzigen ein Schlüsselerlebnis gewesen sei. Während er sich vorher vor den Leprakranken geekelt habe, sei er durch das Zusammensein mit ihnen völlig verwandelt gewesen. Er habe ihre Wunden gewaschen und gepflegt und sogar ihre Hände geküsst.

    Manche Historiker sehen daher in der Begegnung des Franziskus mit den Leprakranken den eigentlichen Grund, warum er seinen früheren Lebensstil aufgegeben habe. Doch wenn man die ältesten Berichte von Zeitgenossen nimmt, dann wird deutlich, dass man von einem längeren Prozess der inneren Verwandlung bei Franziskus ausgehen muss.

    Helmut Feld, Professor vom Institut für europäische Geschichte in Mainz:

    "Der Gang unter die Aussätzigen hatte für die Bekehrung des Franziskus nicht die entscheidende Bedeutung. Der Aufenthalt unter den Leprosen blieb vielmehr eine, wenn auch nicht unwichtige, Episode. "

    Über die Zeit, die Franziskus mit den Leprakranken verbracht hat, gehen die Meinungen in der Forschung auseinander. Die Aussätzigen spielten auf jeden Fall nur für eine begrenzte Zeit eine "besondere Rolle" für Franziskus. Als später Bruder Jacobus die Aussätzigen in die Gemeinschaft der Brüder integrieren wollte, hat Franziskus dies kategorisch abgelehnt.
    Veit Jakobus Dieterich:

    "Vielleicht ahnte er, dass der qualitative Unterschied zwischen dem Ausgestoßen-Sein der wirklich Kranken und der eigenen, freiwilligen, inszenierten und insofern artifiziellen Isolation eben doch nicht aufzuheben war, dass da eine unsichtbare, aber nicht zu überwindende Grenze blieb."

    Ähnliches gilt für sein Verständnis der Armut. Die Armut, die Franziskus wollte, war selbst gewählt. Er und seine Brüder waren ja nicht arm, weil sie durch Krankheit oder einen Unfall alles verloren hatten, und daher betteln mussten, wie es damals üblich war.

    Der evangelische Theologe und Franziskus–Biograph Klaus Reblin:

    "Die Armut des Franziskus ist nicht zu verwechseln mit jener Geißel der Menschheit, die das Leben verdirbt. Einer solchen Armut hätte Franziskus sich nie geweiht. Ihm geht es nicht um gezwungene, quälende Armut, um Not und Entbehrung, sondern um eine freiwillige, fast spielerische Armut, die dem Geist neue Räume eröffnet. Wenn er nicht hatte, was jeder normalerweise besitzt und besitzen will, erfüllte ihn das mit einem elementaren Gefühl der Freiheit. Wer dagegen in Not ist, dem fehlt, was er wirklich braucht. Deswegen hat er das Gefühl, betrogen und unfrei zu sein. Solche Not hätte Franziskus nie verherrlicht."

    Dennoch wollte er wissen, wie die Menschen behandelt wurden, die das Schicksal an den Bettelstab gebracht hatte. Zum Beispiel hat er sich bei einer Pilgerfahrt nach Rom vor dem Petersdom mit den geliehenen Kleidern eines Bettlers unter die Bettler gemischt und die vorbeiziehenden Pilger um Almosen gebeten. Auch das blieb nur eine einmalige Erfahrung.

    Die ihn aber auch um die Erkenntnis bereicherte, dass es zwischen der äußeren, zur Schau gestellten Religion, und der inneren, mit dem Herzen gelebten Religion, eine große Diskrepanz geben kann.

    Anton Rotzetter, Dozent an der Hochschule der Franziskaner und Kapuziner in Münster:

    "Hier sieht er, dass es Leute gibt, religiöse Akte vollziehen und die Apostel verehren, aber kein Herz haben. Mit dieser Religion will Franziskus nichts zu tun haben. Mit viel Lärm provoziert er alle Anwesenden dadurch, dass er all sein gesammeltes Geld in das Apostelgrab hinunterwirft und demonstrativ die Kirche verlässt."

    Das sprechende Kruzifix von San Damiano

    Als er nun zurück nach Assisi kommt, entflieht er immer öfter dem vorgeprägten bürgerlichen Alltagsleben. Er sucht die Einsamkeit der Wälder. Und hier am Berghang unterhalb von Assisi in der halbzerfallenen kleinen Kirche San Damiano kommt es für seine künftige Religiosität und Lebenshaltung zu dem wahrscheinlich folgenreichsten Ereignis.

    Denn als er dort vor dem auf Holz gemalten Kruzifix meditiert, spürt er, dass der Gekreuzigte ihn ansieht und zu ihm die berühmten Worte spricht: "Franziskus, geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, ganz und gar in Verfall gerät."
    Die alten Legenden betonen in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass der Gekreuzigte die Lippen bewegt hätte. Helmut Feld:

    "Der Cruzifixus von San Damiano ist der erste sprechende Cruzifixus in der christlichen Religionsgeschichte: zum ersten Mal seit der Antike spricht wieder ein Gottesbild. Es zeigt sich darin ein Wiedererwachen von Elementen der antiken vorchristlichen Religion, das auch anderwärts bei Franziskus zutage tritt. Dass dies keine vage religionsgeschichtliche Hypothese oder Vermutung ist, zeigt die Darstellung, die Bonaventura in seiner 'Legenda maior' von dem Ereignis gibt. Während die beiden älteren Legenden eindeutig den visuellen Eindruck der Vision wiedergeben, beseitigt Bonaventura dieses 'heidnische' Element, indem er sagt, der Heilige habe mit seinen Ohren eine Stimme gehört, die von dem Kreuz herkam."

    Alle Verfasser von Franziskus-Legenden versuchen auf ihre Art zu deuten, was Franziskus damals erlebt haben könnte. Da das Kruzifix von San Damiano bis heute erhalten ist und inzwischen in der Basilika Santa Chiara in Assisi ausgestellt wird, gibt es immer noch zahllose Spekulationen darüber, wie Franziskus dieses auf Holz gemalte Bild des Gekreuzigten wahrgenommen haben könnte. Helmut Feld:

    "Man darf annehmen, dass sich dem mittelalterlichen frommen Betrachter, dessen Wahrnehmungsvermögen nicht durch den alltäglichen Einbruch von Bilderfluten abgestumpft war, jedes Detail eines Meditationsbildes einprägte und, wenn er intelligent genug war, von ihm verarbeitet und weitergedacht wurde."

    Ohne über das erlebte Gefühl und die damit verbundenen inneren, psychischen Vorgänge zu spekulieren, wird man auch die Visionen des Franziskus in diesen Zusammenhang mit seiner Meditation sehen müssen. Helmut Feld:

    "Was sich in seinen Visionen und Bildvorstellungen zeigt, sind Äußerungen religiösen Denkens. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein Denken in der Art der Schultheologie oder der Philosophie, vielmehr um ein Meditieren über Gott und die Welt, das in sehr tiefe Dimensionen hineinreicht."

    Das bedeutete im Zusammenhang mit der Vision in San Damiano vor allem, dass Franziskus das Bewusstsein hatte, dass der Gekreuzigte ihm eine für sein weiteres Leben entscheidende Weisung erteilt hatte. Franziskus verstand dies zunächst im wörtlichen Sinn und machte sich schon bald daran, die Kirchenruine von San Damiano und andere Kirchen, wie die durch ihn weltbekannt gewordene Portiuncula, wieder aufzubauen. Helmut Feld:

    "Er begriff dann aber auch, dass in den Worten des Cruzifixus darüber hinaus der Wunsch nach einem Neubau der Kirche, einer Umgestaltung der christlichen Gesellschaft des Mittelalters, zum Ausdruck kommt, und dass dies ihm selbst als Lebensaufgabe zugedacht war."

    Aber noch etwas hat das Kruzifix in San Damiano bewirkt. Es beeinflusst in besonders starkem Maße Franziskus’ Vorstellungen von der Erlösung der Welt und der Kirche. Denn auf dem Tafelbild ist nicht nur Christus als Erlöser dargestellt, sondern auch die Wirkung seines erlösenden Leidens auf die gesamte Kirche und darüber hinaus.

    Bei genauer Betrachtung sind nicht nur die bekannten Personen unter dem Kreuz zu erkennen, sondern ebenso wie über dem Kreuz die Auferstehung und Himmelfahrt darstellt sind, gibt es auch eine eindrucksvolle Szene unter dem Kreuz. Helmut Feld:

    "Unterhalb der Füße des Cruzifixus waren, heute kaum noch erkennbar, diejenigen, die in der Unterwelt, also der Hölle, auf ihre Erlösung warten. Auf sie und vier 'Engel', unter den Armen des gekreuzigten Heilands tropft dessen erlösendes Blut ebenso wie auf die unter dem Kreuz stehenden Personen. Unterwelt und Engelwelt scheinen so in die Erlösung einbezogen."

    Diese kunstvoll dargestellten Erlösungsszenen auf dem Kruzifix von San Damiano wirken in Franziskus nach und beeinflussten später seine Überlegungen zur Erlösungsbedürftigkeit der gesamten Schöpfung.

    Zunächst aber führt die Erfahrung in San Damiano zu einer vollkommenen Umorientierung seines Lebens. Franziskus war nun entschlossen, das Leben in der Welt und in Sünden, wie er es ausdrückte, ganz zu verlassen, um ein Leben als Büßer zu führen und den Auftrag, den er erhalten hatte, in die Tat umzusetzen. Er ist jetzt 26 Jahre alt, steht also im Erwachsenenleben und seine Suche hat jetzt ein Ende.

    Veit Jakobus Dieterich:

    "Bezeichnenderweise schließt er sich nicht einem der bestehenden Mönchsorden an, was eigentlich nahe gelegen hätte, aber auch nicht einer der Gruppen der Armutsbewegung. Alle gewohnten gesellschaftlichen, kirchlichen und religiösen Rollen steift er ab. Nirgends schließt Franziskus sich an, er will etwas Eigenständiges, Neues."