Archiv

Franzobel: "Das Floß der Medusa"
Die Normalität des Grauens

Franzobel, der literarische Tausendsassa aus Österreich, widmet sich in seinem neuen Roman einer der bekanntesten Schiffskatastrophen der Neuzeit: dem Schiffbruch der französischen Fregatte "Medusa". Sein opulentes Drama orientiert sich dabei streng an den historischen Fakten und konfrontiert den Leser mit einige unbequemen und verstörenden Wahrheiten.

Von Mareike Ilsemann |
    Das Floß der Medusa von Théodore Géricault.
    Das Floß der Medusa von Théodore Géricault von 1819 (imago stock&people)
    Die Unglücksfahrt der "Medusa" nimmt von der Kasernenstadt Rochefort-sur-Mer im Südwesten Frankreichs aus ihren Lauf. Es ist ein Julimorgen im Jahr 1816. Die Fregatte soll Soldaten, Siedler und den neuen Gouverneur in die Kolonie Senegal transportieren. An Bord auch der Erzähler:
    "Von all den Menschen an Bord, letztlich sollten es vierhundert sein, wollen wir uns zuerst die Picards ansehen.
    - Charlotte! Wo bleibst du? Beeil dich! Charles Picard, Notar und Besitzer einer Baumwollpflanzung in Afrika, ein Mann mit langem, schmalem Gesicht, zwiebelschalfarbener Haut und zu früh ergrautem Haar, trug einen weißen Leinanzug samt Strohhut. Endlich ging es los. Afrika!"
    Die Konflike Frankreichs reisen mit
    Charles Picard plant, mit Kind und Kegel in der Kolonie neu anzufangen. Matrosen klettern an Bord. Soldaten, die schon für Napoleon gekämpft haben, besteigen das Schiff. Der König will sie möglichst weit weg von Frankreich wissen. Schon bald werden sie die Marseillaise anstimmen. Vom Schiffsjungen bis zum adligen Kapitän, auf der Fregatte ist ein Querschnitt der französischen Restaurationsgesellschaft versammelt. Und damit reisen auch die nur notdürftig gedeckelten Konflikte Frankreichs mit. Die Frontlinien ziehen sich fatalerweise durch die Kapitänskajüte. Lauschen wir den Gedanken des ersten Offiziers Reynaud:
    "Nun war er nicht Kapitän geworden, sondern bloß erster Offizier, weil ihm der royalistisch gesinnte, ideologisch verstopfte Marineminister diesen alten Adeligen, de Chaumareys, vor die Nase gesetzt hatte, einen gepuderten Modenarren mit wattiertem Rock, pompöser Halsschleife und Gehstock, der vom Navigieren eines Schiffes so viel verstand wie ein Elefant vom Nägelschneiden. Ein Günstling."
    Erzählstil bedient sich filmischer Mittel
    Im Laufe der Reise wird den Offizieren klar, wie inkompetent der Kapitän ist. Eine Revolte hätte die Katastrophe verhindern können. Aber niemand hat den Mut. Franzobel, der eine ungeheure Recherche für diesen Roman geleistet hat, beschreibt den Hergang der Katastrophe eng entlang der historisch verbrieften Tatsachen. Mit Vergnügen nimmt der österreichische Sprachkünstler nebenbei die Vertreter der alten Ständegesellschaft aufs Korn. Den Kapitän zeichnet Franzobel als schwachen Mann, der in Seidenstrümpfen, Schnallenschuhen und mit zusammengekniffenem Hintern umherspaziert, wenn er nicht gerade auf dem Klo sitzt:
    "Tatsächlich saß Hughes Duroy de Chaumareys in der Offizierstoilette und kämpfte mit seinen Därmen. Jedes Mal, wenn er fertig war, kam ein neuer Schwall, kam ihm das, was er gestern mit Richeford im Roten Krebs gegessen hatte, hinten raus. Die Austern, die Seezunge und das Dessert, alles bahnte sich seinen Weg durch den kleinen Körper mit der großen Nase und den kleinen Ohren – so als ob es die Reise nicht mitmachen wollte."
    Franzobel bedient sich beim Film. Das erzählende Auge gleitet wie eine Kamera über die feuchten Schiffsplanken, folgt vor allem einem Sympathieträger, dem Schiffsjungen Victor, in die Eingeweide der "Medusa". Der zweite Offizier sieht aus wie der junge Alain Delon, heißt es nicht zufällig. Die Dialoge sind ausgefeilt, die Requisite perfekt. Der Leser hört den fiesen Smutje durch die Hasenscharte zischen, wenn er Victor aufs Übelste drangsaliert. Die Schöße der drei unbemannten Unternehmerinnen an Bord verströmen einen unangenehmen Geruch. Franzobel gelingt es, mit den Mitteln der Sprache alle Sinne anzuregen. Das opulente Gesellschaftsporträt und historische Drama ist ein Genuss, das seinen grausamen Höhepunkt erreicht, als die "Medusa" an den Sandbänken von Arguin vor Mauretanien aufläuft.
    Das Grauen wird Realität
    "Als aber in der einsetzenden Dämmerung immer noch kein Schiff gekommen und von den Rettungsbooten keines mehr zu sehen war, wusste man Bescheid. Man hatte sie verlassen, ausgesetzt, verdammt. Fassungsloses Entsetzen machte sich breit. Kürbisplutzer, Hirnzuzler! Die Welt schien zu zerbröckeln. Man hatte sie verraten, feige im Stich gelassen. Jetzt standen sie zu hundertsiebenundvierzigst auf dieser durchlässigen Bretterkonstruktion mitten im Meer. Es war wie auf einem Jahrmarkt, wenn man sich bei den Schaubuden irgendwelchen Monstrositäten aussetzte, man sich ein leichtes Gruseln holte bei der Frau mit vier Beinen, dem Wolfsmenschen, siamesischen Zwillingen oder bei dem Mädchen mit den verkehrten Kniegelenken. Nur dass hier kein Schausteller kam, der sagte, die Zeit ist um."
    13 Tage lang, die unendlich scheinen und in denen es zu Mord, Totschlag und Kannibalismus kommt, treibt das Floß auf dem Meer. Das letzte Drittel des Romans schildert das Schicksal der 147 Menschen, die von der Admiralität auf einem manövrierunfähigen Floß zurückgelassen worden sind. Nur 15 von ihnen überleben. Was auf dem Floß passiert ist, hielt der überlebende Schiffsarzt Jean-Baptiste Savigny in einem Bericht fest. Auch Franzobels Version erspart dem Leser nichts. Als der einzigen Frau an Bord der Kopf abgeschlagen wird, fliegt dieser, Zitat: " wie in einem asiatischen Slapstick B-Movie" durch die Luft. Die Kunst inszeniert Grauen oder rekonstruiert es nachträglich. Auf dem Floß der Medusa war es Realität. So wie auch in Konzentrationslagern, Foltergefängnissen und bei Völkermorden, auf die der Erzähler verweist. Franzobels "Floß der Medusa" ist ein Meisterwerk, das uns mit der unbequemen Wahrheit konfrontiert: Unter bestimmten Bedingungen ist die Spezies Mensch zu allem fähig.
    Franzobel: "Das Floß der Medusa", Zsolnay Verlag, 592 Seiten, 26 Euro