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"Französisches Kraftwerk für deutsche Gefühle"

Vor 40 Jahren kündigten die Bayreuther Festspiele einen jungen unbekannten Franzosen als Regisseur für den Jubiläums-Ring 1976 an. Die Reaktionen waren skeptisch bis offen ablehnend. Doch Patrice Chéreau präsentierte einen "Jahrhundertring".

Von Frieder Reininghaus |
    Als die Bayreuther Festspiele vor vierzig Jahren einen Vorschlag des als "Parsifal"-Dirigenten bewährten Pierre Boulez aufgriffen und einen unbekannten jungen französischen Regisseur für den Jubiläums-"Ring" 1976 ankündigten, rieb sich die Fachwelt hierzulande die Augen. Ein Teil der Stammkundschaft war schon im Vorfeld mit dieser Unternehmensentscheidung nicht einverstanden. Die reagierte erkennbar auf den mit der Studentenbewegung einhergehenden Klimawandel. Man war dann nicht wirklich überrascht, dass sich die Geister am Premierenabend des "Rheingold" schieden. Nur darüber, wie heftig dies vonstattenging (manche meinten, handgreiflich werden zu müssen).

    Was war geschehen?

    Patrice Chéreau hatte einen alten Gedanken von George Bernard Shaw aufgegriffen, nach dem Wotan & Co. eher als Unternehmer des Frühkapitalismus im Frack zu verstehen seien denn als altgermanische Götter und Helden im Bärenfell. Er präsentierte die im Grunde einfache Einsicht in Tableaus von Richard Peduzzi - in Bildern, die den Akkumulationsrausch der Gründerjahre signalisierten und dessen erstes eine Staustufe des Rheins bei Iffezheim herbeizitierte. Chéreau zeigte Ausbeutung und Unterdrückung der Entstehungszeit des "Rings", die Krise einer patriarchalischen Ordnung und er deutete Zusammenhänge von Kapitalismus und Nationalsozialismus an.

    Dem "Zeitgeist" entsprach, dass die traditionell Guten nicht mehr einfach gut und die Bösen auch nur Menschen waren. Dieser "moralische Relativismus" sorgte nicht zuletzt für Empörung. Aber die legte sich schon im darauf folgenden Sommer, da sich allgemein die Erkenntnis durchsetzte, dass Chéreau ein besonders kontaminiertes deutsches Hauptwerk virtuos in eine neue Zeit hinübergerettet habe. Diese Großtat des jungen Regietheaters bleibt als Meilenstein in Erinnerung.