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Fratzscher, Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
"Deutschland braucht ein starkes Europa"

Wenn es durch den Rücktritt von Andrea Nahles (SPD) zu einer Regierungskrise kommen sollte, würde die deutsche Wirtschaft nicht sofort darunter leiden, sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher im Dlf. Größere Sorgen machten ihm globale Konflikte mit den USA und die Frage nach langfristigen Weichenstellungen.

Marcel Fratzscher im Gespräch mit Birgid Becker | 03.06.2019
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher.
"Jetzt sind die etablierten Parteien, die demokratischen Parteien gefordert, den Bürgerinnen und Bürgern eine Vision für Europa anzubieten", sagte DIW-Präsident Fratzscher im Dlf (imago / IPON)
Birgid Becker: Andrea Nahles geht, legt den Parteivorsitz nieder, heute. Den Fraktionsvorsitz morgen. Führungskrise in der SPD, die es auch fraglich erscheinen lässt, ob die Große Koalition die gesamte Legislaturperiode über hält. Möglich wäre auch die Neuwahl des Bundestages noch in diesem Jahr. So unklar waren, so offen waren die politischen Verhältnisse in Deutschland in den Nachkriegsjahren selten, vielleicht nie. Welche ökonomischen Risiken birgt das? Darüber habe ich vor der Sendung mit dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gesprochen, mit Marcel Fratzscher…
Marcel Fratzscher: Zum ersten muss man auch mal offen sagen, die deutsche Wirtschaft steht heute eigentlich immer noch hervorragend da. Wir haben eine Rekordbeschäftigung, die Steuereinnahmen laufen hervorragend, es ist genug Geld da. Wenn jetzt wirklich es zu einer Regierungskrise kommen sollte, denke ich nicht, dass jetzt sofort die deutsche Wirtschaft darunter leiden würde.
Aber ich sehe zwei große Probleme und Herausforderungen. Einmal ist es der globale Konflikt mit den USA, mit China, der bedeutet, dass diesen Konflikt Deutschland nur als Teil eines starken geeinten Europas bestehen kann. Hier ist deutsche Führungsverantwortung erforderlich, absolut erforderlich. Deutschland und die Bundesregierung muss vor allem mit der französischen Regierung übereinkommen, um zu sagen, wie will man auf Donald Trump reagieren, wie will man mit diesen Herausforderungen umgehen. Deutschland und die Bundesregierung muss mehr Verantwortung für Europa übernehmen.
Das zweite sind die langfristigen Weichenstellungen, die Frage, was muss die Politik heute tun im Bereich Klimapolitik, im Bereich Mobilität, im Bereich Digitalisierung und in vielen anderen Bereichen, dass wir gute Jobs auch in 10, in 15 Jahren in Deutschland haben. Deshalb: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Jetzt sind die wirtschaftlich guten Jahre, diese Weichenstellungen zu setzen. Das sind meine beiden Sorgen, dass diese zwei großen Herausforderungen dabei auf der Strecke bleiben.
"Wir brauchen in Europa grundlegende Reformen"
Becker: Splitten wir das noch mal, die Innenpolitik und die Lage in Europa. Was die europäischen Regierungen angeht: Italiens Regierungschef Giuseppe Conte will laut Medienberichten mit seinem Rücktritt drohen, sollte das Bündnis aus rechter Lega und linker Fünf-Sterne-Bewegung seine Differenzen nicht beilegen. Regierungskrise in Rom also. – Eine Übergangsregierung haben wir in Österreich; Frankreichs Präsident Macron ist angeschlagen, deutliche Erfolge hatten zuletzt die Rechtspopulisten des Landes. Wenn jetzt Berlin bis auf weiteres ein nicht Totalausfall, aber Fastausfall ist, wie sind dann die Konsequenzen?
Fratzscher: Wir brauchen in Europa grundlegende Reformen. Das ist, glaube ich, ohne Frage. Wir brauchen eine Diskussion darüber, wie geht man mit einem Brexit um. Man braucht eine Diskussion, wie muss zum Beispiel Banken- und Kapitalmarkt-Union vollendet werden, wie kann man die Menschen wieder mehr mitnehmen, Herausforderungen von Klimapolitik bis hin zu Migration und Flucht. Und wenn hier nichts passiert, wenn es keine handlungsfähigen Akteure gibt – und hier sind vor allem Deutschland und Frankreich in der Pflicht -, dann werden diese Probleme nicht gelöst. Das heißt, die wirtschaftliche und soziale Polarisierung in Europa wird eher zunehmen. Länder wie Italien werden eher noch mal weiter abgehängt, die Konflikte innerhalb von Europa werden zunehmen. Das ist meine Sorge.
Sie haben den Rechtspopulismus angesprochen, der auch in den Europawahlen an Gewicht weiter gewonnen hat. Jetzt sind die etablierten Parteien, die demokratischen Parteien gefordert, den Bürgerinnen und Bürgern eine Vision für Europa anzubieten, die Reformen umzusetzen. Und nochmals: Wir wissen aus der Vergangenheit, das kann nur gelingen, wenn die Bundesregierung und die französische Regierung an einem Strang ziehen, und das tun sie im Augenblick nicht.
Becker: Wenn Sie jetzt aber auf die Akteure gucken, so wie sie im Moment sind, dann ist Paris angeschlagen und Berlin schlichtweg außer Form. Wäre das Letztere, dass Berlin kaum handlungsfähig ist, im Moment nicht ein starker Grund für Neuwahlen?
Fratzscher: Zuerst muss man mal anerkennen, dass die sehr vorsichtige Einstellung der Bundesregierung gegenüber Europa ja nichts der letzten ein, anderthalb Jahre ist. Man kann jetzt nicht sagen, das liegt jetzt nur an der Großen Koalition. Das ist ein Thema, das wir schon die letzten 10, 15 Jahre gehabt haben, dass Deutschland hier immer Bremser war und gesagt hat, Vorsicht, wir wollen nicht, dass Europa in eine Transferunion verkommt und Deutschland hier der Zahlmeister ist. Das ist nichts Neues.
Hier geht es wirklich um ein Verständnis, dass Deutschland ein starkes Europa braucht, dass das gerade in unserem Interesse ist. Ich glaube, das ist ein grundlegenderes Problem. Das wird man wahrscheinlich auch mit Neuwahlen nicht unbedingt lösen, wenn dann doch wieder die gleiche Politik gemacht wird. Es ist ein grundlegenderes Problem, wo wir in der Gesellschaft einen Dialog darüber brauchen, was wollen wir von Europa.
"Die jetzige Regierung handelt sehr kurzfristig"
Becker: Gucken wir auf die Herausforderungen der Innenpolitik, die Sie eben angesprochen haben: Digitaler Wandel, oder jetzt ganz aufs Konkrete geguckt. Was heißt das denn für Grundsteuerreform oder für Klimaschutzgesetz oder für die Grundrente, wenn wir jetzt eine bis auf weiteres zumindest nicht besonders handlungsfähige Große Koalition haben?
Fratzscher: Meine große Sorge ist, dass die Parteien in der Regierung jetzt eine Politik der kleinen Schritte und mit einem sehr kurzen Zeithorizont machen, dass es darum geht, alle Parteien in der Regierung sind unter Druck, sie wollen ihre Wählergruppen bedienen, wollen großzügig sein, was die Sozialpolitik betrifft - das haben sie auch schon gemacht -, und dass dabei die wichtigen Zukunftsinvestitionen komplett hinten runterfallen: Kohleausstieg, über 20 Jahre 40 Milliarden Euro, wie kann denn Deutschland die Klimaziele erfüllen, was ist denn mit Investitionen in digitale Infrastruktur, mehr in Bildung, in nachhaltige Sozialsysteme. Das sind alles Fragen, die heute unbeantwortet sind, aber für die langfristige Perspektive Deutschlands und gerade der jungen Menschen wahnsinnig wichtig sind. Die jetzige Regierung handelt sehr kurzfristig, mit einem sehr kurzen Zeithorizont. Wir wollen stabilisieren, wir wollen Stimmen gewinnen oder nicht noch weiter verlieren. Dabei werden diese langfristigen Prioritäten vergessen und deshalb habe ich volles Verständnis dafür, wenn junge Menschen auf die Straßen gehen und sagen, uns habt ihr dabei vergessen.
Becker: Noch mal die Frage nach Neuwahlen. Wenn Sie der GroKo ein ja nicht gutes Zeugnis ausstellen, dann wäre die naheliegende Überlegung, jetzt zu sagen, dann sollen es andere machen, und dann sollen es andere vielleicht auch vorzeitig machen. Ich frage noch mal nach Neuwahlen. Wäre das jetzt nicht eine gute Option?
Fratzscher: Ich bin mir nicht sicher, weil die Frage ist doch immer, was ist die Alternative, und man könnte sicherlich den Vergleich nehmen zu einer Jamaika-Koalition und sich damals die Vereinbarungen von Dezember 2017 anschauen, soweit es damals schon stand und was es an Vereinbarungen gab, und vergleichen, hätte das Deutschland weiter vorangebracht, wäre das sinnvoller gewesen, was damals in diesen Vereinbarungen abgesprochen war. Die Frage ist immer eine der Alternativen, aber ich glaube, die Frage ist nicht so zentral, Neuwahlen ja oder nein, sondern die Frage muss um Inhalte gehen: Was muss eine Bundesregierung, egal welcher Couleur sie ist, heute tun, um Deutschland und Europa zukunftsfähig zu machen. Für mich ist dabei die Frage der Neuwahlen wirklich eine zweitrangige. Wichtig und im Mittelpunkt muss stehen die Frage, was muss jetzt an wichtigen Reformen gemacht werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.