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"Frau Schavan sollte sich da mal ein bisschen raushalten"

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, hat die Forderung von Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) nach bundesweit einheitlichen Schulbüchern zurückgewiesen. Gerade in den Fächern Deutsch, Geschichte und Geografie müsse es regionale Unterschiede geben. Kraus bezeichnete den Vorschlag von Schavan als "Sommerlochthema".

Moderation: Christiane Kaess |
    Christiane Kaess: Nach sechs Wochen Sommerferien hat im ersten Bundesland in Nordrhein-Westfalen wieder die Schule begonnen. Für mehr als 180.000 Kinder beginnt dort ein neuer Lebensabschnitt, denn sie werden eingeschult. Übernächste Woche folgen Rheinland-Pfalz, das Saarland und dann nach und nach alle weiteren Bundesländer. Gleichzeitig beginnt in knapp vier Wochen das Ausbildungsjahr und mehr als 200.000 Schulabgänger sind noch ohne Lehrstelle. Der Grund bei vielen - so beklagen zumindest Unternehmen - sei die schlechte Schulbildung. Ein Fachkräftemangel wird schon seit längerem beklagt. Dass bei der Bildung in Deutschland einiges im Argen liegt, ist spätestens seit dem so genannten Pisa-Schock bekannt. Am Telefon ist jetzt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Guten Morgen!

    Josef Kraus: Guten Morgen Frau Kaess!

    Kaess: Herr Kraus, werden die Kinder, die heute und in den kommenden Wochen eingeschult werden, am Ende ihrer schulischen Laufbahn so qualifiziert sein, dass sie auf dem Arbeitsmarkt gut unterkommen?

    Kraus: Das hängt natürlich auch vom Arbeitsmarkt ab, ob sie gut unterkommen. Das deutsche Schulwesen ist natürlich gefordert, Anstrengungen zu unternehmen, damit die Kinder gut in die Zukunft hineinkommen. Aber es ist natürlich sehr, sehr schwer, im Jahr 2007 zu prognostizieren, wie genau der Arbeitsmarkt und die Qualifikationsanforderungen etwa 10, 13 Jahre später, also nahe am Jahr 2020, aussehen.

    Kaess: Von Seiten des Handwerks ist zu hören, viele hätten nicht das notwendige Rüstzeug für anspruchsvolle Ausbildungsberufe. Das gelte insbesondere für Hightech-Betriebe. Hinkt die schulische Ausbildung bei den Entwicklungen am Arbeitsmarkt hinterher?

    Kraus: Ja und nein. Was hier von Seiten der Arbeitgeberschaft und der so genannten Lehrherren beklagt wird, das ist vielleicht zur Hälfte berechtigt. Wir haben unter unserer Schüler-Klientel eine Risiko-Klientel, eine Problem-Klientel, die ich je nach Region auf 10 bis 15 Prozent beziffern würde, aber ich unterstelle schon auch mal, dass die Wirtschaft ganz gerne klagt, um davon abzulenken, dass sie nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt.

    Kaess: Nun ist einiges im Umbruch im deutschen Schulsystem. Der Trend - so sieht es zumindest von außen aus - geht zu schneller und effektiver. Greifen wir mal ein paar Punkte heraus. Politiker und Pädagogen wollen die Zahl der Wiederholer reduzieren und sprechen von einer Vergeudung der Lebenszeit. Sehen Sie das genauso?

    Kraus: Ich glaube, dass dieses Problem ein bisschen übertrieben wird, ein bisschen hochgespielt wird. Lassen wir doch einfach mal die Fakten sprechen. Wir haben in Deutschland - das ist für den ersten Blick mal eine erschreckende Zahl - 200.000 Wiederholer pro Schuljahr. Man muss diese 200.000 aber auch mal messen an der Gesamtschülerzahl und da sind wir nämlich bei 12 Millionen. Das heißt also wir haben eine Wiederholerquote von unter zwei Prozent. Zwei Prozent verschleiern natürlich, dass es Unterschiede zwischen den Schulformen und zwischen den Altersstufen gibt. Wir haben sehr niedrige Wiederholerquoten an den Hauptschulen, sehr niedrige Wiederholerquoten an den Grundschulen. Wir haben Wiederholerquoten teilweise bis vier Prozent, fünf Prozent an den Realschulen und den Gymnasien. Also da lässt sich sicherlich noch ein bisschen was machen, was schulische Fördermaßnahmen betrifft, aber es deswegen völlig abzuschaffen, halte ich auch für falsch, denn wiederholen hat ja doch bei vielen Schülern auch schon einen pädagogischen Zweck.

    Kaess: Dahinter steckt wahrscheinlich auch noch etwas anderes. Manche Pädagogen sagen, die Schule wäre ohne diese Wiederholerregelung mehr gezwungen, die Schwachen zu fördern.

    Kraus: Die Schule ist natürlich immer gehalten, die Schwachen zu fördern. Die Frage ist, ob sie dazu in der Lage ist von den Rahmenbedingungen her. Wir gehen in eine Zeit hinein, wo wir zumindest in Westdeutschland wieder in weiterführenden Schulen mit 34-, 35-köpfigen Klassen arbeiten müssen, wo wir keine zusätzlichen Förderstunden haben. Da wird es natürlich verdammt schwer, hier noch individuelle Förderung zu betreiben beispielsweise für die drei, vier, fünf schwächsten Schüler einer Klasse.

    Kaess: Kommen wir zu einem anderen Punkt. Der wichtigste Einschnitt im Schulsystem betrifft sicher die Verkürzung der Zeit am Gymnasium von neun auf acht Jahre. Was sind die bisherigen Erfahrungen?

    Kraus: Ich bin selber Leiter eines solchen Gymnasiums in Bayern. Wir sind im Moment, was die G8-Einführung betrifft, genau in der Halbzeit. Die ersten vier Jahre haben wir hinter uns. Das heißt also die Schüler, die jetzt die achte Jahrgangsstufe abgeschlossen haben, kommen jetzt im Herbst in die neunte Jahrgangsstufe, also haben sozusagen Halbzeit. Die Erfahrungen sind bislang nicht sehr günstig. Zum einen - aber das mag ein bayerisches Spezifikum sein - ist diese Reform, diese Verkürzung unglaublich überstürzt und ohne Konzeption eingeführt worden. Das merkt man heute noch. Hier sind Baustellen über Baustellen. Die Schulbücher für die nächst höhere Jahrgangsstufe sind nicht fertig. Das Oberstufenkonzept steht nicht. Viele Schulen haben noch keine ausreichenden Mensabetriebe bei dem vermehrten Nachmittagsunterricht. Ansonsten müssen wir halt feststellen, dass für einen Teil der Schüler dieses erhöhte Tempo und die zwei Pflichtnachmittage, die unterm Strich dann auch dastehen, doch eine Überforderung sind. Vor allem stellen wir auch fest, dass die Schulkultur darunter leidet. Wenn Schüler eine 36-Stunden-Woche haben, also mindestens zwei Nachmittage Pflichtunterricht auch haben, dann fragen sie sich: habe ich noch die Zeit, um an der schulischen Kleinkunstbühne mitzuarbeiten, ins Schultheater zu gehen, bei Chor, Orchester und Bigband, Wettbewerbsgruppe und zusätzlichen Sportgruppen mitzumachen. Also Schulkultur, das ist sicher ein ganz trauriges Ergebnis, hat unter der G8-Einführung gelitten.

    Kaess: Es ging ja auch um eine Verbesserung im internationalen Wettbewerb. Ist die denn gegeben?

    Kraus: Diese Vergleiche waren immer reichlich schief. Man hat immer übersehen, dass die Engländer auch 13 Jahre haben. Man hat immer übersehen, dass die Niederländer 13 beziehungsweise 14 Jahre haben. Man hat sich immer verglichen mit Ländern, die 12 Jahre haben, aber nicht die allgemeine Hochschulreife verleihen, sondern nur eine eingeschränkte Hochschulreife verleihen. Man hat immer übersehen, dass wir in England beispielsweise keine Dienst- und Wehrpflicht haben, in Deutschland aber eine haben. Man hat immer übersehen, dass es in Deutschland selbstverständlich auch möglich ist, mit 24 Jahren einen Hochschulabschluss beispielsweise an der Fachhochschule oder teilweise auch an der Universität zu haben. Also das waren immer etwas weit hergeholte Argumente.

    Kaess: Herr Kraus, Sie haben die so genannten Risikoschüler schon angesprochen. Andere Länder haben die Zahl von Schulabsolventen mit mittlerer Reife oder Hochschulreife steigern können. Hierzulande kommt die so genannte Bildungsexpansion nur sehr langsam voran. Woran liegt das?

    Kraus: Da werden international Dinge verglichen, die nicht vergleichbar sind. Das gilt sowohl für den Abschluss der Sekundarstufe I wie auch für das so genannte Abitur. Wir haben das Prinzip Allgemeinbildung. Das heißt wir verlangen auch von 15-, 16-Jährigen, dass er einen Kranz an 13, 14, 15 Fächern bis dorthin führt. Das ist in vielen anderen Ländern der Welt eben nicht erforderlich, weil man sich dort ab 13, 14 Jahren schon eng spezialisieren kann. Also diese Vergleiche lasse ich nicht so ganz gelten. Wir haben umgekehrt einen großen Vorsprung, was die Bildungsbeteiligung der 17-, 18-Jährigen betrifft. Da liegen wir bei weit über 90 Prozent. Wir haben einen großen Vorzug mit unserem Berufsbildungssystem, das im Übrigen ja auch die Möglichkeit eröffnet, auf vielen, vielen Wegen Bildungsabschlüsse nachzuholen. Da sollten wir ein bisschen selbstbewusster an unsere eigenen Strukturen glauben. Wir haben übrigens auch - das ist sicherlich Ergebnis auch unserer vorhandenen Strukturen - eine ausgesprochen niedrige Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten, auch wenn sie immer noch für uns selbst zu hoch ist.

    Kaess: Dennoch sind Verbesserungen sicher nötig. Die Pläne der Bildungsminister von Bund und Ländern für mehr Qualität wie auch jetzt wieder zum Beispiel bei der nationalen Qualifizierungsoffensive von Bundesbildungsministerin Schavan, die sind bisher an den Bund-Länder-Zuständigkeiten des Föderalismus gescheitert. Ist denn der Föderalismus bei der Bildungs- und Schulpolitik hinderlich?

    Kraus: Ich glaube nicht, dass das am Zusammenwirken oder am fehlenden Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern gescheitert ist. Der Bund hat bei uns ja Gott sei Dank würde ich sagen relativ wenig zu sagen, aber die 16 Länder haben sich doch am Riemen gerissen nach dem ersten Pisa-Schock im Jahr 2001 und haben eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Die meisten Länder haben sich jetzt ein Zentralabitur angelacht oder sind im Moment dabei, das umzusetzen. Sie haben sich Abschlussprüfungen ab der 10. Klasse angelacht. Sie haben Leistungstests bereits ab der Grundschule eingeführt. Wir haben auf der Ebene der Kultusministerkonferenz Bildungsstandards eingeführt. Also da ist eine Menge geschehen. Man darf da nicht erwarten, dass innerhalb von wenigen Wochen sich das natürlich auch auszahlt. Im Übrigen darf man vielleicht eines nicht übersehen: Wir haben uns von Pisa 2000 auf Pisa 2003 schon deutlich verbessert und ich rechne damit, dass wir bei Pisa 2006 - die Ergebnisse werden wir im Dezember 2007 dann haben - einen weiteren Schritt nach vorne machen.

    Kaess: In diese Diskussion gehört auch die Forderung von Bundesbildungsministerin Schavan nach einheitlichen Schulbüchern. Sind die erforderlich?

    Kraus: Diese Forderung von Frau Schavan sehe ich zunächst einmal mit einem gewissen Schmunzeln. Frau Schavan war ja über zehn Jahre lang eine Hüterin des Föderalismus als Kultusministerin, Schulministerin in Baden-Württemberg. Was sie jetzt bringt, das verbuche ich ein bisschen so als Sommerlochthema. Wir haben den Föderalismus letztes Jahr durch eine Grundgesetzänderung deutlich gestärkt bekommen und ich halte es da wirklich mit dem Prinzip Wettbewerb. Warum soll nicht auch auf dem Schulbuchmarkt quer durch die Länder der Wettbewerbsgedanke eine Rolle spielen. Im Übrigen kann ich eine Reihe von Fächern nennen, wo ich sagen würde, da müssen regionalspezifische Dinge einfach auch in den Lehrbüchern ihren Niederschlag finden: in den Fächern Deutsch, in den Fächern Geschichte, in den Fächern Geographie beispielsweise. Also die Frau Schavan sollte sich da mal ein bisschen raushalten. Im Übrigen ist ihr Vorschlag reichlich blauäugig. Sie hat ja auch sofort Gegenwind bekommen von den Ministern der großen Länder.

    Kaess: Und der Wettbewerb macht sich vor allem an unterschiedlichen Lehrmaterialien fest?

    Kraus: Wenn ich einheitliche Lehrmaterialien haben wollte, mal nur Gesetz den Fall, dann brauche ich erst mal einheitliche Lehrpläne, denn ich kann ja nicht ein einheitliches Lehrbuch auf unterschiedliche Lehrpläne in Geschichte oder Geographie draufsetzen. Natürlich ist das Einmaleins deutschlandweit hoffentlich das gleiche und sind auch Grammatikstrukturen in Deutsch und im Englischen das gleiche. Aber Wettbewerb und Föderalismus bedeutet zunächst mal auch Wettbewerb, soll auch in diesem Bereich sein. Zu einheitlichen Lehrplänen führt kein Weg hin. Das muss man realpolitisch einfach so sehen. Da gibt es auch keine grundgesetzliche Basis dafür.