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Frauen in Afghanistan

Die Petersberg-Konferenz Ende des Jahres 2001 hat die politische Neuordnung Afghanistans nach dem Fall der Taliban 2001 bereitet. Wie steht es heute um das Land am Hindukusch?

Heidemarie Wieczorek-Zeul im Gespräch mit Susanne El Khafif; Mit Beiträgen von Marc Thörner und Suzanne Krause |
    "Susanne El Khafif: "Eine Welt", heute mit einem Schwerpunkt. Wir blicken nach Afghanistan, wollen wissen, wie es heute dort um die Frauen bestellt ist. Ob Petersberg, die Konferenz von Petersberg, vor nunmehr gut sieben Jahren, auch für sie die Weichen neu gestellt hat – so wie versprochen. Oder ob die Strategien Kabuls und des Westens gescheitert sind. Sie werden, meine Damen und Herren, dazu verschiedene Beiträge und Meinungen hören, und wir haben einen Prominenten Gast: Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie ist aus Berlin zugeschaltet und wird immer wieder während der Sendung um ihre Einschätzung und Meinung befragt werden.

    Das hat einen Grund: Heidemarie Wieczorek-Zeul hat sich immer wieder zu Afghanistan und dem zivilen Aufbau geäußert, damals wie heute sehr klar und prägnant. Frau Ministerin, die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich deutlich verschlechtert, was die Kritik an Konzepten und Strategien immer lauter werden lässt. Könnten Sie in Kürze umreißen, welche Ziele die Bundesrepublik dort bis heute verfolgt?

    Heidemarie Wieczorek-Zeul: Die ursprüngliche Strategie war ja im Jahr 2001, sicherzustellen, dass von Afghanistan aus keine Bedrohung, gewalttätige Bedrohung in der Welt mehr möglich ist. Und das Zweite: Nach den entsprechenden Afghanistan-Konferenzen, die ja zu unterschiedlichen Zeiten dann immer wieder stattgefunden haben, gibt es eine gemeinsam verabredete Strategie zum wirtschaftlichen, zum gesellschaftlichen, zum politischen Wiederaufbau, und das ist natürlich ein langfristiger Prozess, in dem es auch immer wieder Rückschläge gibt. Für mich selbst, das haben Sie ja eben angesprochen, kommt hinzu – das hängt auch mit meiner ganz allerersten Erfahrung auch in Afghanistan zusammen –, dass ich mit dazu beitragen will, die Diskriminierung, die Unterdrückung von Frauen zu beenden, zurückzudrängen und die Frauenrechte zu stärken.

    El Khafif: Wenn Sie sich in 2001 zurückversetzen, was hatten Sie sich damals für die Frauen gewünscht in Afghanistan?

    Wieczorek-Zeul: Es ist eigentlich weniger etwas, was ich für die Frauen gewünscht habe, sondern ich sollte Ihnen vielleicht meine Erfahrung da noch mal schildern. Ich bin im Dezember 2001, das heißt praktisch am gleichen Tag, an dem Karzai zurückkam, das heißt ganz kurz nach dem Ende der Taliban, nach Afghanistan geflogen, auf sehr damals schwierigen und abenteuerlichen Wegen, und habe ja noch kein Mitglied einer Regierung treffen können. Aber ich habe die designierte Gesundheitsministerin getroffen, die ich überhaupt noch nie gesehen hatte, deren Namen ich nicht kannte, die nicht meinen Namen kannte, und wir haben uns in irgendeinem ganz feuchten, kalten, eiskalten Büro getroffen.

    Und als wir uns gesehen haben, hat sie mich umarmt und hat gesagt: Wir haben so auf euch gewartet. Und sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Sie konnte vorher berufstätig sein, sie war Direktorin eines Krankenhauses und ist von den Taliban dann nach Hause geschickt worden wie eben alle anderen Frauen. Und dann habe ich natürlich auch die vielen, vielen Kinder gesehen, auch die vielen, vielen Mädchen, die dann wieder in die Schule gehen konnten. Und das heißt, es war das, was sich die Frauen dort gewünscht haben. Und mit dazu beizutragen, dass das Realität wird, das betrachte ich nach wie vor als meine Aufgabe.

    El Khafif: Auf welche Erfolge in puncto Frauenförderung können wir heute zurückblicken?

    Wieczorek-Zeul: Na ja, auch da geht's ja eigentlich um die Eigenverantwortung. Eine der wirklichen Auseinandersetzungen war ja die Frage, ob die Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung tatsächlich auch in die afghanische Verfassung aufgenommen würde.

    El Khafif: Von 2004?

    Wieczorek-Zeul: Natürlich ist eine Verfassung immer noch nicht die Realität, aber es ist doch ein wichtiger Test. Und das ist mit breiter Mehrheit dann tatsächlich auch aufgenommen worden. Auch im Parlament sind rund 27 Prozent Frauen vertreten. Die Schwierigkeiten - und natürlich gehen heute Millionen von Kindern, davon auch Mädchen, mit allen Rückschlägen natürlich auch, in die Schule. Das ist die eine Entwicklung. Wir haben dazu beigetragen, Polizistinnen, Richterinnen auszubauen. Wir sind zuständig in Zusammenarbeit mit dem afghanischen Bildungsministerium vor allen Dingen für die Aus- und Fortbildung von Lehrern und Lehrerinnen.

    Und man kann sagen, dass das auch ein Bereich ist, in dem sehr viele Frauen eine Chance haben. Rund 60 Prozent der Lehramtsanwärter sind Frauen. Und es ist ja auch wichtig mit Blick auf das, was gelehrt wird, ob Zusammenarbeit gelehrt wird oder Hass und Gewalt. Also da gibt es deutliche Verbesserungen. Aber Gewalt ist noch weit verbreitet, in den ländlichen Regionen ist noch immer sehr stark die Männerherrschaft vorherrschend. Die Frühverheiratung und auch die Sterblichkeit von Frauen bei der Geburt und nach der Geburt ist groß. Das sind Aufgaben, die Lebensaufgaben sind, die man aber leisten muss.

    El Khafif: Afghanistan heute, sieben Jahre nach Petersberg, ein Land, in dem die Taliban täglich neue Macht dazu gewinnen, in einem Ausmaß, das jüngst Amerikas Präsident Barack Obama dazu veranlasste, eine deutliche Truppenaufstockung anzukündigen. Die Frauenfrage, meine Damen und Herren, kann nicht ohne die Sicherheitslage betrachtet werden. Hören wir dazu Marc Thörner mit seinen Beobachtungen und Einschätzungen der Situation speziell im Norden des Landes, dort also, wo die Deutschen das Kommando haben und den zivilen Aufbau militärisch absichern sollen:

    In Sharak, einem Weiler unweit von Masar-e-Sharif, ist ein Toter zu beklagen. Während ein Mann aus dem Koran rezitiert, setzen sich immer neue Trauergäste auf die Matte, die den Boden des einfachen Lehmhauses bedeckt. Und zwischen den Gebeten spricht man immer wieder über das, was bis jetzt in Sharak unvorstellbar schien.

    "Gestern, gegen zwei Uhr wurde unsere Polizeistation angegriffen. Mein Bruder gehörte zu den Sicherheitskräften, die dort stationiert waren. Bei dem Angriff ist er umgekommen. 31 Jahre war er alt und seit anderthalb Jahren bei der Polizei. Es ist das erste Mal, dass so etwas im Umkreis unseres Dorfes passiert ist."
    Sharak liegt etwa 30 Kilometer Luftlinie vom deutschen Militärstützpunkt Masar-e-Sharif. Und das bedeutet: Nicht nur in der Paschtunen-Enklave Kundus nimmt die Unsicherheit zu. Auch die überwiegend tadschikische und usbekische Balkh-Provinz scheint nicht mehr vor Überfällen der Aufständischen gefeit.

    Verglichen mit dem Vorjahr, ist Afghanistan heute deutlich instabiler. Nach einer Erhebung des "International Council on Security and Development", eines in Großbritannien ansässigen unabhängigen Instituts, waren 2008 die Aufständischen bereits in 72 Prozent des Landes präsent - gegenüber 54 Prozent im Vorjahr, 2007. In einfachen Zahlen ausgedrückt: In fast drei Vierteln des Landes sollen die Taliban heute machtvoll Präsenz zeigen.

    Vor diesem Hintergrund haben selbst harmlose Hilfsaktionen mehr und mehr den Charakter von Kampfaufträgen gewonnen. Um etwa ins Krankenhaus von Mazar-e Sharif zu gelangen und dort ein paar Kartons mit Spendengütern abzugeben, schickt die Bundeswehr heute einen Konvoi aus mehreren Panzerfahrzeugen los.

    O-Ton Feldwebel: "Unser Auftrag ist die Verteilung von Kinder- und Frauenbekleidung im Balkh-Hospital Dazu befehle ich: Abmarschzeit 08 Uhr 20, geplante Rückkehrzeit: 12 Uhr. Verhalten bei einem IED-Anschlag: Wir räumen den Bereich weiträumig, 250 bis 500 Meter. Verhalten bei Beschuss: Wir erwidern das Feuer ohne Vernichtung von Zivilpersonen. Verstanden?"

    Wo liegen die Ursachen für die immer prekärer werdende Lage? Ein Problem im Norden ist die Arbeitslosigkeit. Die treibt viele der Arbeitslosen geradezu in die Arme von El Kaida oder die der Taliban.

    Eine andere Ursache dürfte das Vorgehen der US-amerikanischen Verbündeten im Süden und Osten des Landes sein. Deren Aktionen sind oft schlecht vorbereitet und durchgeführt, sie basieren oft auf Berichten unzuverlässiger Quellen, sie ziehen Bombenangriffe nach sich, bei denen viele Zivilisten ihr Leben lassen, es kommt zu Durchsuchungsaktionen, bei denen Verdächtige so entwürdigend behandelt werden als handelte es sich um ein Land unter Besatzung.

    Die Folge: Das Vertrauen schwindet. Und: In der Bevölkerung mobilisiert sich Gegenwehr.

    Nach der Ankündigung der Obama-Administration, 17.000 US-Soldaten zusätzlich nach Afghanistan zu schicken, könnte sich das Schwergewicht nun vollends der US-geführten "Operation Enduring Freedom" zuneigen, die sich durch ihren Kampfauftrag vom Aufbau- und Schutz-Mandat der ISAF unterscheidet.

    Angesichts der sich verschlechternden Sicherheitslage scheint sich auch mehr und mehr ein Kurswechsel abzuzeichnen. "Kompromisslose Taliban noch härter bekämpfen. Den Mitläufern, den Konservativen, den traditionsverhafteten Paschtunen aber: Goldene Brücken bauen" - so die offensichtliche neue gemeinsame Taktik von NATO und afghanischer Regierung.

    "Die Verhandlungen mit Hekmatyar, dem Islamistenführer laufen - für mich ist er der Größte aller Extremisten. Die meisten Schlüsselmitglieder der Hekmatyar-Gruppe sind bereits in der Regierung gelandet. Der Kultur- und Informationsminister ist einer von ihnen,"

    sagt Faheem Dashty, Chefredakteur der englischsprachigen Wochenzeitung 'Kabul Weekly'. Bereits jetzt habe Präsident Karzai viele erzkonservative Alt-Islamisten auf Schlüsselpositionen gehievt.

    "Der Generalstaatsanwalt ist Mitglied der Hekmatyar-Islamisten. Elf Provinzgouverneure stammen aus der Hekmatyar-Partei. Das ist dieselbe, die mit den Taliban verbündet ist und gegen die Regierungstruppen und deren internationale Verbündete kämpft."
    Thomas Kossendey, für die CDU parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, äußert Verständnis für den Kurs des afghanischen Präsidenten, die Radikalen einzubinden:

    "Ich glaube: Jedes Gespräch ist besser als eine kriegerische Auseinandersetzung, jedes Gespräch über die Zukunft eines Landes ist besser als terroristische Aktivitäten, um das Land in die eine oder andere Richtung zu formen und wir sollten versuchen, diese Gesprächsfäden zu stabilisieren."
    Und Niels Annen, Mitglied im Parteivorstand der SPD und im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages mit Afghanistan befasst, sieht kaum eine Alternative dazu, die einzugemeinden, die zu bekämpfen man ursprünglich angetreten war.

    "Präsident Karsai hat ja immer gesagt: Wer bereit ist, sich auf Grundlage der Verfassung in das politische Leben einzubringen, der ist willkommen. Und er hat ausdrücklich die Taliban mit einbezogen. Aber wir dürfen uns auch nichts vormachen, auch der deutschen Öffentlichkeit keinen Sand in die Augen streuen: Wenn es eine solche Übereinkunft gibt, wird es auch einen Preis zu zahlen geben. Und das bedeutet: die Erwartungen an eine rechtsstaatliche Entwicklung in Afghanistan werden dann möglicherweise einen Rückschlag erleiden."
    Doch auf wessen Rücken würde das ausgetragen? Wessen Rechte würden hintan gestellt werden?

    Der Preis, der ganz offensichtlich auch nach Meinung deutscher Politiker für eine bessere Sicherheit im Land zu zahlen wäre, könnte - ganz konkret - die Frauen in Afghanistan betreffen.

    El Khafif: Soweit der Bericht von Marc Thörner, zugeschaltet aus Berlin ist Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Frau Ministerin, im Beitrag ist die Rede von einem Kurswechsel in Kabul, der Beteiligung von islamistischen und konservativen Kreisen an der Macht, und wir hörten auch die Einschätzungen aus dem Verteidigungsministerium und aus dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Sie lassen durchblicken, das rechtsstaatliche Prinzipien auf der Strecke bleiben könnten um Willen der Stabilisierung der Lage. Wollen Sie das unwidersprochen so stehen lassen?

    Wieczorek-Zeul: Also ich glaube, man muss ein paar Punkte auch noch mal jetzt aus den Beiträgen versuchen klarzustellen. Das eine ist, die Situation in Afghanistan ist unsicherer geworden, das stimmt. Es gibt eben die Selbstmordattentäter, die, weil sie eben gerade nicht die Vorherrschaft im Land ausüben können, auf solche Aktionen dann zurückgreifen, die Menschen terrorisieren. Und diese Zahl, die jetzt verwandt worden ist, dass rund Dreiviertel des Landes Afghanistan unter, in Anführungszeichen, "Taliban-Einfluss" stehe – also ich habe mir diese Untersuchung damals angesehen, da wird eigentlich jeder kriminelle Aktivität, die einmal pro Woche vorkommt, den Taliban zugerechnet.

    Das halte ich nicht für seriös. Aber ich sage noch mal, die Situation ist auch im Norden unsicherer geworden, und ich ziehe daraus eigentlich folgende Schlussfolgerungen. Erstens – und das erwarte ich auch von der Regierung Obama –, dass die Strategie geändert wird, dass eben die Strategie bedeutet, natürlich auch militärisch Sicherheit zu erreichen, aber dass eben die Zivilisten dabei nicht Opfer werden, weil sonst Wut und Hass um sich greifen. Insofern Veränderung der Strategie im Militärischen, damit die gemeinsame Linie, die wir auch als Bundesregierung haben, dann auch von den amerikanischen und von den britischen Soldaten eingehalten wird.

    El Khafif: Wenn wir noch mal Bezug nehmen auf die Äußerungen von Niels Annen, der da sagt, es könnte sein, dass rechtsstaatliche Prinzipien auf der Strecke bleiben könnten: Sie sehen diese Gefahr nicht?

    Wieczorek-Zeul: Es kommt ja gerade darauf an, Rechtsstaatlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen, indem die Polizei, die ja vonseiten der Europäischen Union ausgebildet werden soll, eigenverantwortlich dann auch tätig werden kann. Wir haben zum Beispiel mit dazu beigetragen, Rechtsschutz auch für Frauen zu ermöglichen, die von Gewalt betroffen sind oder die ins Gefängnis geworfen worden sind. Das heißt, es geht ja gerade darum, rechtsstaatlichen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen und Unsicherheit und Gewalt zu beenden und wie gesagt, vor allen Dingen auch die Justiz, die Richter, auch die Strafverfolgung selbst, den Zusammenhang zwischen Justiz und, anschließend, und der Arbeit der Polizei entsprechend zu sichern. Also ich glaube, es geht gerade darum, Rechtsstaatlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

    El Khafif: Und Differenzen zum Verteidigungsministerium sehen Sie nicht? Herr Kossendey erwägt durchaus, dass es richtig ist, Gespräche zu führen.

    Wieczorek-Zeul: Na ja, da kann ich nur sagen, es hat ja mal fürchterliche Erregung gegeben, als Kurt Beck vor einiger Zeit gesagt hat, man solle eben mit denjenigen, die eben nicht gewaltbereit sind und die bereit sind, den Dialog zu führen, auch das Gespräch führen. Und wenn man das tut, wenn das gemacht wird, finde ich das in Ordnung. Die Frage - man muss immer gucken, man darf vielleicht nicht das Etikett sich ansehen, sondern wirklich die Inhalte. Und wenn jemand wirklich ganz massiv Gewalttaten propagiert und in der Beziehung auch nur Zweifel erhebt, dann bin ich der Meinung, ist das kein Gesprächspartner, dann ist das auch kein Partner in der Regierung. Es ist eben genau wichtig, solch klare und kohärente Linie zu vertreten.

    El Khafif: Afghanistans Präsident Hamid Karzai, Frau Ministerin, hat gerade in den letzten Tagen noch einmal die Einbindung auch der Taliban in einen politischen Prozess angedeutet und zugleich vermerkt, dass er keinen Widerspruch sehe, auch Teilen des Scharia-Rechts Geltung zu verschaffen. Das hätte dann direkte Auswirkungen auf die Frauen in Afghanistan, zumal es dann mit Blick auf die Taliban auch um eine ausgesprochen puritanische, ja harte Auslegung des Scharia-Rechts gehen würde. Jener wahabitischen, die eigentlich einen Import aus Saudi-Arabien darstellt. Ist ein solches Zugeständnis an die radikalen islamischen Kräfte im Land vereinbar mit dem, was einst in Petersberg mit Blick auf die Frauenrechte vereinbart wurde?

    Wieczorek-Zeul: Es ist auch nicht vereinbar mit der Verfassung der afghanischen Republik, islamischen Republik selbst, in der eben diese entsprechende Gleichberechtigung verankert ist. Die afghanische Regierung hat auch die internationalen Gleichberechtigungsabkommen, zum Beispiel die "Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women" unterschrieben. Es widerspricht dem, wenn diese Art von Diskriminierung von Frauen und den Frauen Rechte zu nehmen, praktiziert würde. Das ist noch mal ein Unterschied von der Frage, wie stark gilt die Scharia, denn es gibt eben durchaus islamische Länder, in denen formal die Scharia irgendwo auch in der Verfassung verankert ist, aber die Praxis völlig anders ist.

    Also ich lege sehr stark Wert auf die Frage: Wie sieht es wirklich aus und welche Beispiele setzen Regierungen? Und da erwarte ich von Karzai, dass er den Schutz von Frauen und ihre Rechte in den Mittelpunkt stellt. Und es ist auch extrem wichtig, dass die Frauen wissen, sie können sich auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verlassen. Und das ist das Allermindeste, was wir tun können. Was auf keinen Fall akzeptabel wäre, wäre so ungefähr zu sagen, na ja, also damit jetzt, in Anführungszeichen, "Ruhe und Frieden herrscht, wollen wir die Frauenrechte zurückdrängen". Das ist völlig unakzeptabel und ist auch ein Verständnis von Stabilität, das völlig in die Irre geht.

    El Khafif: Wir wollen an dieser Stelle die Meinung einer Expertin hören, Citha Maass von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Auch sie will die Frauen stärken, glaubt aber heute, dass der Westen mit Blick auf die Frauen zu forsch, zu fordernd aufgetreten ist, damit den Konservativen eher in die Hände gespielt hat, als das Gegenteil zu bewirken:

    Citha Maass: Man muss Frauen fördern, aber man hätte es politisch mit sehr viel mehr Fingerspitzengefühl machen sollen, und man hat durch diese politische Rhetorik bei den Gebern den Taliban auf einem Silbertablett politische Ziele gereicht. Gerade aber vor dem Hintergrund halte ich es für einen politischen Fehler, dass die internationale Gemeinschaft nach 2001 die Frauen so deutlich gefördert hat und zwar offen politisch gefördert hat, weil sie damit in einer patriarchalen Gesellschaft versucht hat, Reformen zu forcieren, in fünf Jahren eine 25-prozentige Frauenquote im afghanischen Parlament durchzusetzen. Wir haben in Europa über 100 Jahre dafür gebraucht.

    El Khafif: Frau Ministerin, hat Citha Maass da recht, fehlte dem Westen das Fingerspitzengefühl?

    Wieczorek-Zeul: Also wenn, dann sollte sich Frau Maass natürlich mit ihren eigenen Positionen auch aus dem Jahr 2001 beschäftigen. Also ich war selbst auch bei den Konferenzen, die am Rande der Petersberg-Konferenz stattgefunden haben mit den Nichtregierungsorganisationen. Da war die Forderung der afghanischen Nichtregierungsorganisationen – und soweit ich mich erinnern kann, auch von Frau Maass – nun genau die Frage der Gleichberechtigung von Frauen. Also, ich sag's jetzt mal etwas ironisierend: Hätte ich die Gesundheitsministerin nicht umarmen sollen und sagen sollen, ihr könnt euch auf uns verlassen.

    Die Frauen selbst haben diese Forderungen gestellt, und es ist nicht der Versuch gewesen, sie jetzt voranzuschicken. Dass das – das haben wir ja vorhin besprochen – in unterschiedlichen Regionen sehr unterschiedlich ist, in den ländlichen eben ganz anders als in städtischen, ist auch klar. Aber die sind selbstbewusst, und das ist auch gut so. Und wie gesagt, wir haben zum Beispiel durch die Frage der Mikrokredite sie unterstützt. Oder sollten wir drauf verzichten, zum Beispiel den Frauen, die von ihren Männern wegen angeblicher Untreue oder anderer Fragen ins Gefängnis geworfen worden sind, die praktisch keinen Rechtsbeistand haben. Sollen wir sagen, nö, wir verzichten drauf, wir wollen nicht so offen die Frauen fördern? Also ich muss sagen, ich finde das zynisch und ich kann das auch nicht akzeptieren.

    El Khafif: Wir wollen uns jetzt, meine Damen und Herren, mit einer ganz anderen Position und Meinung auseinandersetzen. Es ist die der afghanischen Frauenorganisation "Rawa". "Rawa" steht für den revolutionären Verein der Frauen Afghanistans, es gibt ihn seit über drei Jahrzehnten, er nahm seine Arbeit also schon vor dem Einmarsch der Sowjets auf, für die Demokratie und die Gleichberechtigung. Als andere Aktivistinnen verstummten, hatten die Frauen von "Rawa" weitergemacht im Untergrund, und sie haben dafür international Respekt und Anerkennung bekommen. Suzanne Krause hat eine Vertreterin von "Rawa" in Paris aufsuchen können:


    Sehr routiniert wirbt Sara derzeit in Frankreich um Unterstützung für ihren Verein "Rawa". Landauf, landab hat sie bei Treffen französische Feministinnen über die Lage in ihrer Heimat aufgeklärt. In Paris gibt sie eine Pressekonferenz, organisiert von einem sehr links angesiedelten Unterstützerkomitee.

    Da tritt die 27-Jährige in salopper Kleidung auf, ein hübsches mittelgroßes Mädchen. In Afghanistan trägt Sara die Burka, ist von Kopf bis Fuß verhüllt. Sara heißt eigentlich anders und bei ihrem Auslandsbesuch darf keiner ihr Antlitz fotografieren: Damit die Taliban sie nach ihrer Rückkehr nicht aufspüren können.

    Rawa-Aktivistinnen stehen bei den islamistischen Fundamentalisten auf der Todesliste. Dafür gibt es Gründe. Als das Taliban-Regime an der Macht war, organisierten die Frauen von Rawa heimlich Schulunterricht für Mädchen. Sie versorgten Witwen und Waisen mit Lebensmitteln, sie schmuggelten Bilder von öffentlichen Exekutionen außer Landes und zeigten der Welt das wahre Gesicht des Taliban-Regimes.

    Auch Sara lernte Lesen und Schreiben beim "Revolutionären Verein der Frauen Afghanistans". Die Lehrerinnen weckten ihr politisches Bewusstsein in punkto Frauenrechte. Und um die steht es bis heute schlecht, berichtet Sara. Ihre Botschaft: Das Land und seine Bewohnerinnen wurden bis heute nicht befreit, weder in ihren Häusern noch auf den Straßen:

    "Trotz der Bilder, die in vielen Medien verbreitet werden, leiden die Frauen bei uns weiter, sie werden immer noch unterdrückt. In der Öffentlichkeit werden sie drangsaliert, von religiösen Fundamentalisten, von Vertretern der Jihad-Bewegung, von Warlords, von der Taliban-Bewegung. Auf der Straße drohen den Frauen Kidnapping und anschließend die Zwangsverheiratung mit Warlords. Männerbanden vergewaltigen sogar Kleinkinder und Großmütter."
    Die unabhängige "Kommission für die Menschenrechte in Afghanistan" dürfte Sara da Recht geben. Laut der Kommission ist die Zahl der gemeldeten Gewaltakte an Frauen zwischen 2006 und 2007 um 54 Prozent nach oben geschnellt. Die zunehmende Gewalt wirkt sich auch auf das Bildungs- und Erziehungswesen aus.

    "Zwar haben offiziell die Schulen wieder ihre Pforten geöffnet und nehmen auch Mädchen auf. Aber da im Land kein Friede herrscht, haben viele Mädchen Angst, auf dem Schulweg überfallen zu werden. Und deshalb behalten die Familien ihre Töchter lieber zuhause."
    Die Vereinten Nationen melden, dass heutzutage die Hälfte der schulpflichtigen Kinder in Afghanistan auch wirklich den Unterricht besuchen, darunter ein Drittel Mädchen. Ein unbedingter Fortschritt. Doch zum internationalen Frauentag 2008 hielt die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" fest: Die mutwillige Zerstörung von Schulen, speziell für Mädchen, sei mittlerweile trister Alltag. Ende Januar bombten Taliban-Vertreter an einem einzigen Wochenende fünf Schulen kaputt. Und auch zuhause sind die Frauen laut "Rawa" keineswegs sicher. Jede vierte Afghanin sei heute Opfer häuslicher Gewalt. Die Täter: Gatten, Väter, Brüder.

    "Leider behauptet die Regierung in Kabul, das Problem zunehmender Gewalt an Frauen beschränke sich allein auf das private Umfeld. Das stimmt nicht. Die Regierung hat bislang keine Gesetze erlassen, die die häusliche Gewalt verbieten. Sie geht nicht wirklich gegen die traditionsgebundene Unterdrückung der Frauen vor. Und zudem sind in der Polizei und in den Regierungsbehörden zu viele Männer selbst gewalttätig gegenüber ihren Frauen. Das ist der Hauptgrund dafür, dass die Gewalt hinter den Mauern zunimmt: die Männer sehen tagtäglich, dass sie ungeschoren davon kommen."
    Frauenmord ist alltäglich. Und wird zumeist nur bekannt, wenn das Opfer einen bekannten Namen trägt. Im vergangenen September wurde Malalai Kakar vor ihrer Haustür von Taliban niedergeschossen: Kakar galt über den Hindukusch hinaus als weibliche Ikone der afghanischen Polizei. Als Heldin: Sie spürte Taliban-Krieger auf. Ihre kaltblütige Ermordung ist ein herber Schlag mehr für all die, die auf eine bessere Lage für die Frauen im Land hoffen.

    Kurz drauf begnadigte Staatspräsident Karsai drei Männer, die eine 14-Jährige vergewaltigt hatten: Einer der Täter ist der Sohn eines Warlords im Parlament. Für Rawa ein gutes Beispiel, das zeige, wie machtlos Karsai eigentlich sei. Die Opfer sind die Frauen, empört sich Sara.

    "Diese Haltung der Regierung treibt heute immer mehr Frauen in den Selbstmord. Die Selbstmordrate in Afghanistan ist eine der höchsten weltweit. Junge Mädchen verbrennen sich selbst, weil sie alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren haben."
    Kaum einer im Land hofft noch darauf, dass es den alliierten Truppen gelänge, das Land am Hindukusch zu befrieden und die Frauen zu befreien, meint der revolutionäre Frauenverein.

    Heute verlangt "Rawa" energisch den Abzug aller alliierten Streitkräfte. Auch die der Deutschen. Hält man den Aktivistinnen entgegen, dann könnten die Taliban die Oberhand gewinnen, entgegnen sie: Dann hätten sie es immerhin nur noch mit einem Gegner zu tun. Folgerichtig gab es bei Rawa keinen Jubel, als Barack Obama sein Amt antrat.

    "Wir sind nicht optimistisch. Denn als sich Obama erstmals zu Afghanistan äußerte, sprach er von Krieg und nicht von Frieden. Der amerikanische Staatspräsident setzt auf die Verstärkung der Truppen. Wir glauben nicht, dass dies die richtige Lösung ist. Die Amerikaner müssen ihre Afghanistanpolitik komplett ändern. Sie dürfen sich nicht von einer fundamentalistischen Gruppierung abhängig machen, um eine andere auszuschalten. Sie sollten endlich demokratische Gruppen im Land unterstützen. Solange die Amerikaner ihren Kurs nicht ändern und selbst wenn sie noch tausende Soldaten schicken, wird ihr Unterfangen scheitern. So wie es bislang total gescheitert ist."

    El Khafif: Der Bericht von Suzanne Krause. Zugeschaltet aus Berlin ist Heidemarie Wieczorek-Zeul. Frau Ministerin, "Rawa" fordert den völligen Abzug aller ausländischen Truppen. Was würden Sie der jungen Sara antworten?

    Wieczorek-Zeul: Ich würde der jungen Sara antworten, dass der Abzug der Truppen bedeutet, dass das Feld frei ist für die vollständige Unterdrückung der Frauen, wie das zuvor der Fall war, unter den Taliban bis 2001, und dass deshalb das Richtige ist – und das klang ein bisschen ja eben auch mit an –, das Richtige ist, dazu beizutragen, dass klar ist, es geht nicht um militärische Siege in der Frage, sondern es geht darum, ist das Militär im Land, um Menschen zu schützen, um Wiederaufbau auch entsprechend mit abzuschirmen. Und da hat sich ja auch die Terminologie der amerikanischen Regierung schon sehr deutlich geändert.

    Auch gerade bei der Sicherheitskonferenz in München ist ja deutlich geworden, dass es eben um beide Elemente geht – um die militärische Seite, aber auch um den Wiederaufbau. Und ich glaube, wenn sich diese Linie der amerikanischen Regierung durchsetzt, ist dann auch eine Verbesserung der Situation jedenfalls möglich. Es geht vor allen Dingen, das ist so ein bisschen ein Zirkelschluss in der "Rawa"-Argumentation – es geht darum, Prozesse zu unterstützen.

    Es geht nicht, von heute auf morgen ist nicht die Welt in einem solchen Land eine andere, sondern es geht darum, Prozesse zu unterstützen. Und zum Beispiel, der Gewalt wirkt am ehesten natürlich auch entgegen, einmal natürlich durch die Rechtsstaatlichkeit in einem Land, aber auch, indem Frauen eigenständig werden. Und ich will einfach drauf hinweisen, wir haben zum Beispiel durch die Mikrokredite die Chance geschaffen, dass Frauen auch eigenständig sein können, denn die lassen sich dann so schnell eben nichts von ihrem Mann gefallen.

    El Khafif: Wagen wir einen ganz kurzen letzten Blick in die Zukunft: Sind sie optimistisch, was die Entwicklung in den nächsten Jahre angeht?

    Wieczorek-Zeul: Ich glaube, es hängt sehr stark einmal von dem ab, was wir eben besprochen haben, wie positioniert sich die internationale Gemeinschaft, Rückzug wäre meines Erachtens keine Lösung in irgendeiner Form, und ob wirklich die Aktion, die jetzt notwendig ist, diese gemeinsame Aktion, tatsächlich auch vollzogen wird. Und noch mal: Ich hoffe, dass es möglich ist, dass die amerikanische Regierung sehr schnell ihre Strategie in Bezug auf Afghanistan gemeinsam mit einbringt und die Geber sich noch besser abstimmen.

    El Khafif: Frau Ministerin, vielen Dank für das Gespräch. Das war unsere Sendung "Eine Welt". Das Thema: "Frauenrechte adé? Afghanistan, die Taliban und der Westen". Unsere Gesprächspartnerin war Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Aus terminlichen Gründen haben wir das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet. Ich verabschiede mich, weise gerne noch auf die Nachrichten und die Sendung "PISAplus" hin. Heute geht es da um das Fernstudium, um das Studieren von zu Hause aus. Mit Dank fürs Interesse und Zuhören, am Mikrofon verabschiedet sich Susanne El Khafif.