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Frauengefängnis Tochigi in Japan
Frieren gehört zur Strafe

620 Gefangene sitzen in Japans größtem Frauengefängnis Tochigi ein. Die Haftbedingungen sind hart, es gibt keine vorzeitige Entlassung, kaum ärztliche Versorgung. Dennoch soll es alte Frauen geben, die extra einen Diebstahl begehen, um dort eingesperrt zu werden. Weil sie kein Geld haben, um draußen zu leben.

Von Jürgen Hanefeld | 09.12.2017
    Stacheldraht an der Mauer des Kosuge-Gefängnisses in Tokio, Japan
    In Japan bedeutet Anklage in mehr als 99 Prozent der Fälle zugleich Schuldspruch (Imago)
    Es ist 6.30 Uhr auf den Armbanduhren der Wächterinnen, der Weckruf im Gefängnis von Tochigi hallt durch die Flure: "Aufstehen". Menschliche Stimmen holen die Insassinnen aus dem Schlaf oder ihren Wachträumen.
    Von Zellentür zu Zellentür gehen die Vollzugsbeamtinnen, fordern die Frauen dazu auf, sich zu waschen und die beigefarbenen Pyjamas anzuziehen, die Anstaltskleidung. Jeden Morgen dieselbe Prozedur, bevor das Frühstück durch die Schlitze geschoben wird. Eine Schale Reis - verlängert mit billigem Weizen - und eine Tasse Miso-Suppe. Kein Nachschlag, nur Tee ohne Ende.
    "Das Essen ist genau berechnet. Ernährungswissenschaftler sagen uns, wie viele Kalorien die Frauen brauchen. Für Kranke gibt es eine Sonderdiät."
    Masanori Nakahama heißt der Justizbeamte, der mich begleitet, einer aus der Leitung des Gefängnisses. Der 39-Jährige absolviert einen Teil seiner Karriere in Vollzugsanstalten, bevor er auf einen bequemeren Sessel im Ministerium hoffen kann. Seine bisherigen Stationen waren Männergefängnisse. Der Unterschied?
    "Die Frauengefängnisse sind viel voller als die für Männer. Es gibt alte Frauen, die extra einen Diebstahl begehen, um hier eingesperrt zu werden, weil sie kein Geld haben, um draußen zu leben. Und die Insassinnen werden immer älter. Immer mehr brauchen Rollatoren oder werden inkontinent. Deswegen brauchen wir mehr Pflegepersonal. Wir setzen jetzt schon jüngere Gefangene als Pflegerinnen ein."
    Nichts in der Zelle, was das Herz erwärmt
    Wenn die Küchenbrigade das Essgeschirr eingesammelt hat, verlassen die Frauen ihre Zellen. Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen. Auf knapp sechs Quadratmeter ist Platz für den Futon, die japanische Schlafmatte. Dazu das Klo, das Waschbecken, ein Bücherregal und ein kleiner Fernsehschirm. In einem Koffer, der für alle gleich ist, sind persönliche Habseligkeiten untergebracht, Wäsche zum Wechseln, aber kein Kuscheltier, kein privates Bild an der Wand, nichts, was das Herz erwärmt. Auch die Räume sind nicht beheizt. Frieren gehört zur Strafe.
    Einziger Luxus: Zwei bis drei Mal pro Woche dürfen die Gefangenen baden. Die Kolonne huscht auf Stoffschuhen vorbei, ohne den Blick zu heben. Alle anderen müssen zur Arbeit. Zehn verschiedene Fabriken betreibt das Tochigi-Gefängnis, in dieser sind 64 Frauen mit Näharbeiten beschäftigt, stellen Helmfutterale, Verpackungen für Reifen und Zellstofffüllungen für Kinderpuppen her. Zwangsarbeit, sagen Kritiker, denn das Gefängnis verkauft die Produkte an Privatunternehmen. Der marginale Lohn wird den Frauen erst nach Verbüßung der Strafe ausbezahlt. Andererseits gilt es als Strafverschärfung, nicht arbeiten zu dürfen. Die Aufseherin Masako Noda sagt:
    "Es gibt keinen Akkord. Aber wir legen Arbeitsziele fest, die am Monatsende erreicht sein sollten."
    Anklage bedeutet Schuldspruch
    Und wenn nicht? Das japanische Justizsystem ist wenig flexibel. Wer zusätzlich bestraft werden soll, etwa wegen Ungehorsams oder hysterischer Anfälle, wird bis zu zehn Tagen in eine kahle Isolierzelle gesperrt. Dort muss die Delinquentin auf dem Boden sitzen, um - wie es heißt - nachzudenken. Umgekehrt gibt es aber keine Haftverkürzung bei guter Führung. Die einzigen Privilegien beziehen sich auf den Zellentyp. Wer gehorcht, darf die Tür offen lassen. Oder in einer Gruppenzelle schlafen mit sechs anderen Frauen. Oder eine Stunde länger fernsehen.
    Auch die tägliche halbe Stunde Sport wird nur denen gegönnt, die sich gut benommen haben. Ausgelassenes Gelächter begleitet die Frauen. Federball oder Hula-Hoop-Reifen sind im Angebot, viele laufen nur im Kreis, aber sortiert nach Nationalitäten. Neben Japanisch hört man Chinesisch, Philippinisch, Thai und Amerikanisch heraus. Eine hat Geburtstag.
    Die meisten sind des Drogenschmuggels für schuldig befunden worden - zu Recht oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. In Japan bedeutet Anklage in mehr als 99 Prozent der Fälle zugleich Schuldspruch. Die Gerichte stehen in Strafprozessen fast immer auf Seiten der Staatsanwaltschaft. Fehlurteile werden überaus selten revidiert, was nicht nur bei Todesurteilen tragische Folgen hat. Und was die Ausländerinnen angeht: Das Personal spricht ausschließlich Japanisch, Dolmetscher gibt es nicht, bestätigt Masanori Nakahama:
    "Hier draußen auf dem Lande gibt es sowas nicht. Es gibt ja so viele Sprachen! Das macht die Sache nicht einfach."
    Nach dem Sport darf ich zwei ausgewählte Insassinnen sprechen. Vorweg die Frage: Sind Frauen eigentlich weniger böse als Männer?
    "Nein, leider nicht. Aber ich denke, die Straftaten sind andere. Bei Mord geht es häufig um die Tötung des eigenen Kindes oder Ehemanns, um sehr emotionale Taten im näheren Umfeld."
    Lebenslänglich ist wörtlich zu nehmen
    Als die schlanke 60-Jährige den beheizten Verhörraum betritt, schreibt Masanori Nakahama mit.
    "Ich wollte meine Nachbarin nicht umbringen. Ich wollte, dass sie mir Geld leiht. Aber dann schrie sie so laut, dass ich sie zum Schweigen bringen wollte. Ich habe sie erwürgt. Und dann ihr Geld von der Bank abgehoben."
    Das Verbrechen liegt 15 Jahre zurück. Doch das Urteil "lebenslänglich" ist in Japan wörtlich zu nehmen. Sie wird nie wieder frei sein - und will es offenbar auch nicht:
    "Mit dieser Strafe bin ich vollkommen einverstanden. Ich wollte mich eigentlich umbringen. Ich fühle mich schuldig gegenüber der Gesellschaft und hätte Angst, gemieden zu werden, wenn ich frei käme. Hier kritisiert mich niemand, denn jeder trägt ja seine eigene Schuld."
    Ihr einziger Wunsch sei es, ihre drei Kinder noch einmal zu sehen. Aber die melden sich nicht, sagt sie, seit sie wegen Mordes verurteilt ist.
    Die andere Mustergefangene ist halb so alt und nur für zehn Jahre eingesperrt. Warum, verrät sie nicht, doch manches deutet darauf hin, dass sie mit Rauschgift zu tun hatte:
    "Als ich mein Urteil erfuhr, war ich schockiert. Aber inzwischen sehe ich es ein. Als Studentin habe ich geglaubt, mir alles leisten zu können. Jetzt weiß ich, wie falsch das war."
    Hoffnungsschimmer Berufsausbildung
    Wer einsichtig ist, zumindest im Sinne des Staates, für den gibt es neuerdings nicht nur Strafe, sondern auch einen Hoffnungsschimmer - in Gestalt einer Berufsausbildung. Sechs Ausbildungswege werden angeboten, und die Nachfrage übersteigt das Angebot um das Vierfache.
    Neben den typischen Frauenberufen wie Friseurin, Kosmetikerin und Krankenpflegerin bietet das Gefängnis auch eine Ausbildung zur Gabelstapler-Führerin an. Zaghafte Ansätze für den in Japan neuen Weg der Resozialisierung. Doch der steht nur wenigen Insassinnen offen: zehn Prozent. Die anderen können nicht, dürfen nicht oder sollen nicht.
    Willkür lautet der häufigste Vorwurf, schlechte ärztliche Versorgung der zweit häufigste. Spätestens hier verstößt Japan gegen die international gültigen Mandela-Regeln über humanen Strafvollzug. Obwohl jede zweite Gefangene unter psychischen Problemen leidet - das geht von Essstörungen über Schreikrämpfe bis hin zu Depressionen -, gibt es in Tochigi keine fachärztliche Betreuung. Fünf Krankengymnastinnen für 620 Frauen, das ist alles. Die jüngere Gefangene sagt:
    "Gott sei Dank bin ich gesund, aber ich fürchte mich davor, krank zu werden. Es gibt hier nämlich keine medizinische Einrichtung. Und keinen freien Zugang zu Medien. Wer weiß, wie die Welt aussieht, wenn ich rauskomme?"