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Freitod von André Gorz und seiner Frau
"Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen"

Unter dem Pseudonym André Gorz wurde aus dem Wiener Emigranten Gerhart Horst in Frankreich ein bekannter Publizist. Seine Kritik an der kapitalistischen Industriegesellschaft und ihrer Wachstumsideologie machte ihn zum Vordenker einer politischen Ökologie. Heute vor zehn Jahren nahm er sich gemeinsam mit seiner Frau das Leben.

Von Wolfgang Stenke | 23.09.2017
    Der französische Philosoph und Soziologe Andre Gorz auf einem Foto aus dem Jahre 1998.
    Der französische Philosoph und Soziologe Andre Gorz auf einem Foto aus dem Jahre 1998 (EPA / Daniel Mordzinski)
    "Ich gehöre zu keiner Kultur. Ich kann mich weder in einer wiedererkennen noch mich damit identifizieren oder mich darin zu Hause fühlen. Im Alter von 16 habe ich aufgehört, Deutsch zu sprechen und zu lesen."
    André Gorz, geboren 1923 in Wien, gemeinsam mit seiner Frau Dorine von eigener Hand gestorben in der Nacht vom 22. auf den 23. September 2007.
    Gorz - der Name ist ein Pseudonym - war Sozialphilosoph und unkonventioneller Soziologe: ein Vordenker der politischen Ökologie und des Umbaus der modernen Industriegesellschaft. Als Journalist nannte er sich Michel Bosquet. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie:
    "Gorz war ein Mensch, der auf eine ganz behutsame, leise, aber sehr eindringliche und sehr selbstbewusste Art und Weise die Verhältnisse der Linken zum Tanzen gebracht hat."
    Themen auch heute noch aktuell
    Zum Beispiel durch sein Buch "Abschied vom Proletariat", in dem er 1980 den marxistischen Klassenbegriff zerlegte. Sehr zum Ärger dogmatischer Linker. Impulse zu emanzipatorischer Veränderung, so Gorz, dürften eher von "Status- und Klassenlosen" ausgehen, als von den Resten der organisierten Industriearbeiterschaft. Der Wirtschaftswissenschaflter Christophe Fourel, ein Freund von Gorz:
    "In seinem Werk hat er den Akzent auf viele Dinge gelegt, die heute aktuell sind - ob das nun die Entwicklung des Finanzkapitalismus ist, ob das die ökologischen Probleme sind, mit denen wir zu tun haben, die Arbeitslosigkeit und der Stellenwert der Arbeit, all diese Fragen - Gorz hat sie behandelt."
    Bei seiner Geburt hieß André Gorz Gerhart Hirsch. 1930 ließ sein Vater, ein zum Katholizismus konvertierter Jude, den Familiennamen wegen des wachsenden Antisemitismus' ändern - von Hirsch zu Horst. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs schickten die Eltern den sechzehnjährigen Gerhart - er galt als so genannter Halbjude - auf ein Internat im Engadin. Im Schweizer Exil machte Gerhart Abitur und absolvierte ein Chemiestudium. In Abgrenzung von seiner österreichisch-deutschen Herkunft wandte er sich Frankreich zu - dem Land der Menschenrechte und einer universalistischen Kultur:
    "Als ich dann erfuhr, dass Frankreich unter dem Siegeszug der Wehrmacht und des 'Herrenvolkes' zusammengebrochen war, hatte ich ein Gefühl, ja, das sind die Leute, denen ich nahestehe, auf diese Kultur, die da zusammengebrochen ist, kann ich mein Leben aufbauen."
    Effizienter Journalist
    Jean-Paul Sartre wurde zum philosophischen Leitstern von "Gérard" Horst. Später wird er als André Gorz zur Redaktion von Sartres Zeitschrift "Les Temps Modernes" gehören. In Lausanne begegnete Gérard nach dem Studium der Liebe seines Lebens: der Engländerin Dorine Keir. Gemeinsam zogen sie 1949 nach Paris und schlugen sich mit prekären Jobs durch. Bis Gérard Horst als Michel Bosquet journalistisch Karriere machte - beim liberalen Nachrichtenmagazin "L’Express". Schließlich, ab 1964, beim linken "Nouvel Observateur", dem Leitmedium der unabhängigen französischen Linken. Der Journalist Guy Sitbon erinnert sich an diesen Kollegen:
    "Journalistisch war er sehr effizient! Er besaß die Fähigkeit, Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft nicht nur über die Darstellung von Ereignissen zu entwickeln, sondern über die Menschen selbst."
    Das zweite Leben gemeinsam verbringen
    Die Ideen Herbert Marcuses, des Philosophen der 68er-Studentenproteste, oder Ivan Illichs, Kritiker des westlichen Bildungssystems und der Apparatemedizin, brachte Michel Bosquet im "Nouvel Obs" auf die Tagesordnung. Und auch den Widerstand neuer sozialer Bewegungen gegen Umweltzerstörung und Atomkraft. Mit seinen "grünen" Themen drang er in der Redaktion allerdings immer weniger durch, als die Sozialisten unter Mitterrand regierten. 1983 nahm er seinen Abschied und zog in das Dörfchen Vosnon am Rande der Champagne. Dort widmete er sich der Pflege Dorines, die unter einer chronischen Krankheit litt. Im Landhaus in Vosnon schrieb André Gorz noch fünf Bücher - darunter sein erfolgreichstes: "Brief an D. Geschichte einer Liebe":
    "Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten."
    Durch eine Giftinjektion schieden die beiden gemeinsam aus dem Leben. Die Gendarmerie fand ihre Körper Seite an Seite im Landhaus in Vosnon.