Freitag, 10. Mai 2024

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Fremde in der Nacht

"Verbotene Liebe" ist einfach ein zu schönes Motiv, als daß man es der Literaturgeschichte überlassen könnte. Was haben wir geseufzt bei all den verbotenen Leidenschaften von Anna Karenina bis zum "Pfarrer von Kirchfeld". Ach, den kennen Sie nicht? Also, das ist ein Drama von Anzengruber, in dem ein junger Seelsorger durch die Zuneigung zu einer obdachlosen Waise einen schweren inneren Kampf zu bestehen hat. Gut, das klingt nach 19. Jahrhundert, ist es auch, aber das Thema ist offenbar noch aktuell. Schließlich grassiert es in Fernsehserien und ist auch das Hauptmotiv im neuen Roman der Essayistin, Fernsehkritikerin und Autorin Barbara Sichtermann.

Eva Pfister | 06.04.1998
    Die obdachlose Waise ist ein Ostberliner Straßenkind und läuft dem Versicherungsagenten Hagen Schäfer in einer Regennacht einfach zu. Triefend und schluchzend steht Yvonne vor seiner Tür. Kennengelernt hat er sie schon vorher, bei einem Überfall ihrer Kinderbande auf dem Bahnhof Alexanderplatz. Irgendwie hat es der pädagogisch begabte Versicherungsagent geschafft, von ihr einen Teil der Beute zurückzubekommen - das verbindet. Außerdem teilt Yvonne seine Leidenschaft für Spielzeugeisenbahnen, darüber ist Hagen so gerührt, daß er überlegt, wie er sie adoptieren könnte. Aber eines Nachts verführt ihn das Mädchen, das natürlich viel erfahrener wirkt, als seine 12 oder 13 Jahre vermuten ließen. Erst mit der Zeit dämmert es dem braven Mann, daß sein Glück für die Außenwelt schlicht den Tatbestand des Kindesmißbrauchs darstellt. Schon meiden ihn die engeren Freunde, und eines Tages ist Yvonne verschwunden, dafür tauchen zwei unangenehme Typen auf und fordern Schweigegeld.

    Als Fernsehkritikerin ist Barbara Sichtermann unbarmherzig hellsichtig im Aufspüren von Klischees. Sie können ihr also in dieser Menge beim Schreiben nicht einfach unterlaufen sein. Tatsächlich hat man beim Lesen oft den Eindruck, daß die Autorin genüßlich mit den Klischees spielt. Schon im Titel "Fremde in der Nacht" - wie auch in der Handlung baut sie Erwartungen auf, die sie mit böser Regelmäßigkeit enttäuscht. Strebt etwa die Liebesgeschichte zwischen dem Versicherungsagenten und Yvonne zielstrebig einem happy end entgegen - so entpuppt sich das Gör doch glatt als durchtrieben. Befürchtet man aber den tragischen Untergang des betrogenen Gutmenschen, so löst sich die Erpressungsgeschichte plötzlich in Wohlgefallen auf, und Hagen Schäfer kann beruhigt zu seinen Spielzeugeisenbahnen zurückkehren - und zu seiner Ehefrau.

    Denn eine solche gibt es auch. In Rückblenden erzählt Sichtermann die Szenen einer Ehe zwischen dem braven Hagen und seiner Almut, die sich im Sexualleben auf Voyeurismus kapriziert hat, das heißt, sie will immer einen dritten Mann als Beobachter dabeihaben, Partnertausch inbegriffen. Hagen ist zunächst schockiert, macht aber schließlich mit - und muß entdecken, daß der Anblick eines nackten Mannes in ihm durchaus Wohlgefallen auslöst. Nach dem großen Ehekrach ist sich Almut nicht zu schäbig, im Freundeskreis Hagens homophile Neigungen auszuplaudern, während er über ihre Sexualpraktiken diskret schweigt.

    Irgendwie ist dieser Romanheld zu gut für diese Welt. Was mag Barbara Sichtermann bloß bewogen haben, ihren Hagen Schäfer so ohne Fehl und Tadel zu zeichnen? Man spürt ständig ihre Anerkennung oder ihr Mitgefühl zwischen den Zeilen. Im Gegensatz zu ihm sind seine Mitmenschen ziemlich ätzend: verlogen oder spießig, egoistisch, und dazu oft noch selbstgerechte Moralapostel.

    Und darin liegt wohl der tiefere Grund: Barbara Sichtermann hat sich nämlich schon an anderer Stelle als Kämpferin gegen political correctness hervorgetan. Diesen Kampf führt sie auch in ihrem Roman: Alle politisch korrekten Positionen werden als dumm oder heuchlerisch entlarvt. Das Leben, so klärt uns das Buch auf, ist eben weder politisch noch sexuell korrekt. Darum findet der gute Hagen zum Ende auch den richtigen, weil verboten machohaften Umgang mit seiner Frau. Auch dieses happy end liefert Barbara Sichtermann mit einem leichten Augenzwinkern. Ihr Raffinement besteht aber darin, daß sie das Spiel mit den Klischees so dezent hält, daß auch die flüchtigen und die Kitsch-Leser voll auf ihre Kosten kommen. Aber ist das nicht schon literarisch unkorrekte Kalkulation?