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Freude am zweiten Versuch

2008 ist Jahr der Mathematik. Günter Ziegler, Präsident der Deutschen Mathematikervereinigung, erläutert die Ziele der zahlreichen Veranstaltungen und schwärmt von der Lust an der Knobelei: "Ich bin einer, der nicht so schnell aufgibt."

Moderation: Christoph Heinemann | 11.01.2008
    Christoph Heinemann: Wir sind also thematisch und auch kalendarisch schon im Jahr der Mathematik. Viele Veranstaltungen sind geplant, die nicht nur die Adam Rieses unter uns, sondern auch die mathematisch klein Gebliebenen erreichen sollen. Die Fäden des Jahres laufen bei Günter Ziegler zusammen. Er ist Professor für Mathematik an der Technischen Universität Berlin und Präsident der Deutschen Mathematikervereinigung und er meint unter Berufung auf Hans Magnus Enzensberger, ein Ziel des Mathematikjahres solle darin bestehen, die Zugbrücke zwischen Mathematik und Öffentlichkeit wieder in Betrieb zu nehmen.

    Ich habe Günter Ziegler vor dieser Sendung gefragt, ob diese Zugbrücke zurzeit klemmt?

    Günter Ziegler: Mein aktueller Eindruck ist, dass die überhaupt nicht klemmt, sondern ganz wunderbar funktioniert, wo wir gerade anfangen, sie runterzulassen am Anfang dieses Jahres eben auch. Sie war nur wirklich außer Betrieb. Die Zugbrücke war hochgezogen.

    Heinemann: Warum war sie hochgezogen?

    Ziegler: Ich glaube, auf Seiten der Mathematik war das Vorurteil, die Leute wollen das ja eh nicht hören. Und auf Seiten der Öffentlichkeit vielleicht, was die Mathematik ist, wissen wir, und was die uns erzählen, verstehen wir eh nicht und wollen es deswegen auch nicht hören. Beides Vorurteile, die, glaube ich, einfach nicht mehr am Platz sind.

    Heinemann: Gegenüber der Wissenschaft oder gegenüber den Wissenschaftlern?

    Ziegler: Ich glaube nicht, dass die Leute das wirklich differenzieren. Ich merke eben auch, dass die Vorstellung davon, was "die Mathematik" ist, eigentlich viel zu eindimensional ist. Mathematik ist etwas sehr Vielfältiges, und Mathematik als Schulfach in der Grundschule ist nun wirklich etwas anderes als Mathematik in der Forschung. Die Mathematik, die man vielleicht im Gymnasium sieht, ist ganz etwas anderes als das, was etwa in den Anwendungen in der Industrie auftaucht.

    Heinemann: Was ist denn Mathematik?

    Ziegler: Für mich ist Mathematik zunächst etwas sehr Vielfältiges. Da gehören Gebiete der Mathematik dazu wie die Geometrie, die Algebra, die Zahlen, die Wahrscheinlichkeitstheorie und so weiter. Dazu gehört aber eben auch Mathematik als Kunst und Mathematik in der Kunst. Dazu gehört Mathematik als eine sehr praktische Wissenschaft, die in der Industrie wirklich zu Lösungen führt. Für mich ist Mathematik auch einfach ein großer Abenteuerspielplatz. Mich faszinieren die Rätsel. Mathematikwettbewerbe sind ja etwas Wunderbares, woran auch sehr viele Schülerinnen und Schüler in Deutschland teilnehmen. Es gibt ja diesen wunderbaren Känguru-Wettbewerb jedes Jahr im Frühjahr, der letztes Jahr über eine halbe Million Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatte, Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland. Ich hoffe, dass es dieses Jahr noch sehr viel mehr sind.

    Heinemann: Vorausgesetzt man kann es. Für nicht wenige Schülerinnen und Schüler bleibt das Mathematikbuch dauerhaft, was es zu Beginn ihrer Schulzeit war, nämlich eines mit sieben Siegeln. Welchen Rat geben Sie denn denjenigen, die im Unterricht nichts oder wenig verstehen?

    Ziegler: Noch mal frisch anfangen und sich die Sachen aus einer anderen Richtung anschauen. Letztlich ist dieses etwas Schwieriges, aber auch etwas Positives. Mathematik ist ja auch deswegen interessant, weil es wirklich schwierig werden kann.

    Heinemann: Gibt es mathematisch unmusikalische Menschen?

    Ziegler: Die gibt es schon, und denen würde ich dann ein Mathematikstudium wirklich nicht empfehlen.

    Heinemann: Wie stellen Sie sich denn guten Mathematikunterricht in der Schule vor?

    Ziegler: Den stelle ich mir eben auch sehr vielfältig vor. Das heißt der muss einen Teil haben, und das ist der, der offenbar in der Erinnerung immer greift, wo man einfach Dinge und Techniken lernen muss. Aber die anderen Komponenten sind die, wo aus der Mathematik erzählt wird, wo Mathematik als Fach als Ganzes dargestellt wird, wo Mathematik illustriert wird als etwas, was im Alltag überall auftaucht, wenn man einfach mit offenen Augen durch die Welt geht und einem Mathematik als etwas sehr Lebensnahes präsentiert wird.

    Heinemann: Nun spielt die Division von Polynomen in meinem Alltag erkennbar jedenfalls keine Rolle.

    Ziegler: Das ist richtig. Deswegen halte ich die Division von Polynomen eben einfach auch für ein Randthema irgendwo in der Oberstufe, wo man das mal gesehen haben sollte. Jeder, der Mathematik studieren will oder eben auch Ingenieur werden will, in ein technisches wissenschaftliches Studium gehen will, der sollte das in der Oberstufe im Gymnasium mal gelernt haben.

    Heinemann: Ihr Spezialgebiet, Herr Professor Ziegler, sind Polytope, habe ich gelesen. Was sind und wofür benötigen wir Polytope?

    Ziegler: Polytope sind Polyeder in Räumen beliebiger Dimension.

    Heinemann: Wie bitte?

    Ziegler: Das sind also Polygone in der Ebene, Vielecke wie Quadrate, Fünfecke und so weiter. Im Dreidimensionalen ist es das, was wir schon aus der griechischen Mathematik als Polyeder kennen, also den Würfel, den Tetraeder. Die regulären Polyeder sind eben schon in der griechischen Mathematik klassifiziert worden als sehr schöne Objekte, die immer wieder in der Kunst auftauchen.

    Mich interessieren insbesondere vierdimensionale Polyeder, die man sich nicht mehr vorstellen und visualisieren kann, zumindest nicht ganz so einfach, die aber immer noch mathematisch sehr interessant sind, sehr viel Symmetrie haben und dann sehr wichtig werden, wenn man zum Beispiel in die Optimierung geht. Die sind die Grundlage von einem Gebiet wie lineare Programmierung und ganzzahlige Programmierung, was man üblicherweise nicht sieht, was aber hinter den Busfahrplänen steht und hinter den Flugplänen von jeder größeren Fluglinie auf der Welt, weil die ihre Optimierung eben genau mit Software machen, die auf linearer Optimierung, ganzzahliger Optimierung beruht. Das heißt, Polyeder sind irgendwo da drin.

    Heinemann: Das ist sozusagen der wirtschaftliche Nutzen. Vielleicht gibt es ja auch einen kulturellen. In seinem "Glasperlenspiel" lässt Hermann Hesse seinen Magister Ludi Josef Knecht ein Konzert von Johann Sebastian Bach mit einer mathematischen Formel verknüpfen. Welches kultur- oder geisteswissenschaftliche Potenzial wohnt der Mathematik inne?

    Ziegler: Ich glaube ein sehr vielfältiges, weil man eben auch von ganz unterschiedlichen Seiten der Kunst in die Mathematik einsteigen kann, aber auch von unterschiedlichen Seiten der Mathematik in die Kunst losmarschieren kann. Die Brücken sind eigentlich vielfältig. Diese Brücke zwischen der Musik Bachs und der Mathematik ist eine, die zum Beispiel dann viele Jahre nach Hesse ja in dem Bestseller "Gödel, Escher, Bach" von Hofstadter wieder aufgenommen wurde und faszinierend illustriert wurde dann mit Grafiken von Escher. Das heißt, wir haben da schon die Musik von Bach. Wir haben die Grafiken und Holzstiche von Escher. Wir haben ganz vielfältige Mathematik und Logik, lauter Dinge, die zusammenpassen. Ich glaube, da gibt es noch sehr viel mehr Brücken zwischen verschiedenen Künsten und verschiedenen Bereichen der Mathematik, die lohnen zu entdecken.

    Heinemann: Lässt Bachs Musik Mathematikerherzen höher schlagen?

    Ziegler: Also meines schon!

    Heinemann: Welche Noten stellen Sie dem mathematischen Nachwuchs in Deutschland aus?

    Ziegler: Ich kann vielleicht nur das sagen, was ich eben auch an meiner Hochschule beobachte, an der TU Berlin, und dann auch in dem Kontext von Berlin Mathematical School - das ist die Graduiertenschule der drei Berliner Universitäten -, wo ich sehe, dass wir fantastische Studenten dort haben, die wirklich sehr begabt sind, die auch sehr gut ausgebildet aus der Schule kommen. Wir haben dann aber auch eine Menge Studenten, wo ich nicht den Eindruck habe und wo eine Beobachtung ist, dass viele Studentinnen und Studenten mit bemerkenswertem Mangel an Selbsteinschätzung eigentlich bei uns ankommen. Das heißt, die haben eigentlich gar kein Gefühl dafür, was sie können und was sie nicht können und wie gut sie sind und wie gut sie nicht sind.

    Heinemann: Sollten die Schulen überhaupt besser mit den Hochschulen zusammenarbeiten?

    Ziegler: Ich glaube ja. Da machen wir eine ganz große Anstrengung im Rahmen des Mathematikjahres. Wir versuchen jetzt wirklich, ganz aktiv Brücken zu bauen quer durchs Land.

    Heinemann: Konkret wie?

    Ziegler: Konkret dadurch, dass wir gar nicht vorgeben, wie das jetzt zu passieren hat. Das ist übrigens auch ein Prinzip davon, wie wir jetzt Mathematikjahr machen, dass wir keine Vorgaben machen, sondern dass wir sagen, schickt uns Ideen davon, was ihr machen wollt zwischen Schule und Hochschule, und dafür werden wir Förderung finden, und wir werden natürlich diese Ideen auch austauschen. Nichts ist besser, als eine gute Idee zu klauen und zu kopieren. Wir hoffen, dass einfach durch den Austausch, dass man eben sieht, was andere auch machen, da wirklich etwas vorangeht.

    Heinemann: Sollte Mathematik möglichst theoretisch oder möglichst lebensnah vermittelt werden?

    Ziegler: Ich glaube beides. Aber wenn ich das übertreibe, dann passiert eine Katastrophe. Die Katastrophe ist ja in den 70er Jahren auch passiert, als damals die neue Mathematik kam, die glaube ich über Jahrzehnte sehr viel ruiniert hat, wo jetzt 2008 der Zeitpunkt gekommen ist, die letzten Trümmer wegzuräumen.

    Heinemann: Inwiefern ruiniert?

    Ziegler: Als damals man geglaubt hat, Mathematikunterricht würde so viel besser, wenn man alles völlig theoretisch aufzieht. Das haben die Eltern damals nicht verstanden, die Lehrer nicht verstanden, die Kinder auch nicht. Das war so ein Versuch, Mathematik nur als Theorie zu transportieren, und das ist, glaube ich, schief gegangen. Das ist letztlich auch in der mathematischen Wissenschaft selber schief gegangen, und da ist schon seit den 80er Jahren wieder eine Bewegung, wo wir sagen uns interessiert eben nicht nur die abstrakte algebraische Geometrie, sondern genauso auch die Konstruktionen, die uns interessante Beispiele liefern. Der Mathematikunterricht muss, glaube ich, durchaus Theorie machen, aber er muss eben auch lebensnah illustrieren, wo die Objekte her kommen, wo sie auftreten, wie man mit ihnen umgehen kann, also was die Mathematik mit der Wirklichkeit zu tun hat. Das ist genau diese Zugbrücke.

    Heinemann: Herr Professor Ziegler, wie gehen Sie mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, vielleicht auch der Wut um, wenn eine Rechnung nicht aufgeht, Sie aber wissen, dass es eine Lösung gibt?

    Ziegler: Ich bin einer, der nicht so schnell aufgibt und der sich auch freut, wenn er einfach sagt, jetzt habe ich drei Schritte zurück gemacht, und jetzt mache ich mal einen nächsten Anlauf. Ich glaube, das ist natürlich auch etwas, was man in der Mathematik und in jedem anderen Gebiet lernen muss, wenn der erste Versuch nicht klappt, dass dann der zweite vielleicht noch mehr Spaß macht.

    Heinemann: Das heißt, man lernt auch Demut?

    Ziegler: Man lernt auch Demut, aber man lernt ebenso die Freude daran, wenn es dann beim zweiten oder dritten Mal erst klappt, wo ich sage, damit, dass ich es dreimal versucht habe, kann ich wirklich zeigen was ich kann. Es sind ja am Ende auch nur die Dinge etwas Wert, die ein bisschen Schweiß und eben den zweiten oder dritten Anlauf gekostet haben.

    Heinemann: Das Gespräch mit Professor Günter Ziegler von der Technischen Universität Berlin, dem Koordinator des Mathematikjahres 2008, haben wir aufgezeichnet, bevor dieser zu einem Mathematikerkongress abreiste.