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Friedensnobelpreis für die EU ist "kühn und sinnvoll"

Die EU sei aus der Erfahrung mit dem Nationalismus und den damit verbundenen Kriegen entstanden, sagt der Schriftsteller Robert Menasse. Durch die Überwindung des Nationalismus sei nachhaltiger Friede möglich, aber dazu müsse auch eine neue "nachnationale Demokratie" entstehen.

Robert Menasse im Gespräch mit Peter Kapern | 12.10.2012
    Peter Kapern: Hans Magnus Enzensberger, der kluge Kopf und Schriftsteller, hat sich kürzlich in die Höhle des Löwen begeben: nach Brüssel. Dort hat er sich umgetan und einen Report aus dem Innenleben der europäischen Institutionen geschrieben. "Sanftes Monster Brüssel", so heißt sein wenig schmeichelhaftes Büchlein. Auch der Schriftsteller Robert Menasse ist nach Brüssel gereist, um sich ein Urteil über die europäische Realität zu bilden. Sein Buch, seit drei Wochen auf dem Markt, hat einen etwas komplizierten Titel. Es heißt: "Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss". In diesem Buch kommt Robert Menasse zu einem grundlegend anderen Urteil über die europäischen Institutionen als sein Kollege Hans Magnus Enzensberger. Auch Menasse hat sich im Europaviertel von Brüssel umgeschaut, und vor einer guten Stunde habe ich ihn gefragt, was für eine EU er dabei vorgefunden hat.

    Robert Menasse: Na, eine ganz andere EU, soweit man "die EU" sagen kann. Im Grunde ist es eine Gruppierung von supranationalen Institutionen, die verschiedene Aufgaben haben und auch zueinander in Widerspruch stehen und in Konkurrenz. Aber wie immer man das jetzt im einzelnen beschreibt, das Verblüffende für mich war, dass es sich ganz anders darstellt, wenn man es von innen her sich anschaut und recherchiert, als es in der Regel in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Es ist nicht so ein erratischer Block, oder so eine Burg, eine Ansammlung von Beamten, die da in ihrer Wagenburg sitzen und weltfremd und ohne Kenntnis der Realität irgendwelche Richtlinien und Verordnungen aushecken. Das ist es überhaupt nicht. Je mehr man sich mit der Europäischen Union beschäftigt und sich ihr wirkliches Funktionieren, ihre Ansprüche, ihre Absichten, ihre Bemühungen anschaut, umso faszinierender wird das Projekt. Das heißt aber nicht, dass es nichts an ihr zu kritisieren gibt. Nur um sie wirklich produktiv kritisieren zu können, muss man besser verstehen, wie sie funktioniert.

    Kapern: Was hat Sie denn so fasziniert an dem, was Sie dort vorgefunden haben?

    Menasse: Zwei Dinge. Erstens einmal grundsätzlich – und das ist ja ohnehin bekannt – der Anspruch. Wir sagen immer Friedensprojekt. Was ist der Sinn der EU? Man sagt in der Regel, das Friedensprojekt. Und wir haben eine sehr lange, für Europa eigentlich ungewöhnlich lange Zeit des Friedens und des wachsenden Wohlstands erlebt. Und man kann das durchaus der Entwicklung des Kontinents seit der Montanunion und der Entwicklung der Europäischen Union dem wirklich zuschreiben. Aber mich hat auch wirklich fasziniert, dass ich begriffen habe, wenn wir EU-perspektivisch denken, was da entsteht, nämlich etwas vollkommen Neues, in der Geschichte noch nie da gewesenes. Es ist nämlich nicht nur einfach ein Friedensprojekt, sondern die EU ist entstanden aus der Erfahrung mit dem Nationalismus, auf der Basis der historischen Erfahrungen mit Nationalismus und nationalistischen Kriegen und einem Nationalismus, der bis zum größten Menschheitsverbrechen, bis zu Auschwitz geführt hat. Und aus dieser Erfahrung hat man den Schluss gezogen, wir müssen den Nationalismus überwinden, wir müssen die Macht der Nationen zurückdrängen, bis wo möglich zu dem Punkt, dass die Nationen absterben. Das ist heute vergessen, aber das war der Anspruch. Und erst durch die Überwindung des Nationalismus wird nachhaltiger Friede möglich sein. Jean Monnet hat geschrieben, wir wissen aus der Geschichte, dass Friedensverträge das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind. Wir müssen den Nationalismus überwinden, und das ist das Friedensprojekt. Und was jetzt entsteht – und das muss man begleitend, kritisch diskutierend, mitgestaltend mittragen als Bürger Europas – ist ein nachnationales Europa. Einen nachnationalen Kontinent hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Und wir müssen, damit das auch demokratisch und partizipativ funktioniert, etwas vollkommen Neues erfinden, nämlich eine nachnationale Demokratie, weil die Demokratie, so wie wir sie kennen und so wie wir sie gewohnt sind, ist nationale Demokratie und die ist entstanden im Zusammenhang mit der Nationswerdung der einzelnen europäischen Staaten. Und wenn wir den Nationalismus überwinden wollen, müssen wir auch die nationale Demokratie überwinden und das Neue erfinden, die nachnationale Demokratie.

    Kapern: Wie genau erklärt man diese Vision den Bürgern, die sich ja gerne innerhalb der EU stärker wieder aufs Regionale, aufs Nationale zurückziehen würden und sagen, unsere nationale Identität darf in der EU nicht verloren gehen?

    Menasse: Wie erklärt man es ihnen? Ich habe es versucht mit dem Buch, das ich geschrieben habe, das ich ohne Eitelkeit jetzt natürlich auch empfehle, aus diesem Grund. Wie erklärt man das? Man muss ja nur mit Menschen, mit denen man diskutiert, zum Beispiel die Frage stellen, erklär mir deine nationale Identität. Worin besteht sie? Was ist das ganz spezifische deiner nationalen Identität? Was ist es, wovon du glaubst, dass du ohne es nicht sein kannst? Und man kommt immer wieder darauf, dass niemand es genau erklären kann, dass jeder dann im Zweifelsfall Symptome von regionaler Identität angibt. Es ist jeder zuerst ein Hesse oder ein Franke oder ein Sache oder ein Thüringer oder ein Bayer oder ein Preuße, bevor er Deutscher ist.

    Kapern: Herr Menasse, eine wichtige Frage habe ich noch zum Schluss. Hat die Europäische Union Ihrer Meinung nach den Friedensnobelpreis verdient?

    Menasse: Ich finde die Entscheidung kühn und sinnvoll und ich finde sie eigentlich wunderbar. Ich kann mir zwar jetzt vorstellen, was die linken und die rechten Kritiker schreiben werden in der Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung. Die einen werden schreiben, das ist eine zynische Entscheidung im Hinblick auf die Misere, die durch die Austeritätspolitik und durch die Vorgaben der europäischen Kommission den Griechen und den Spaniern und so weiter aufgebürdet werden. Die Rechten werden schreiben, es ist ein Skandal, dass dieses Projekt, das die Nationen aushöhlt, jetzt diesen illustren Überbau verpasst bekommt. Aber wenn wir es in Ruhe betrachten, dann ist das eine wirklich vernünftige Entscheidung, denn jedes denkende Gemüt, jeder vernünftige Mensch will den nachhaltigen Frieden auf diesem, durch so viele Kriege bereits verwüsteten Kontinent haben.

    Kapern: Der Schriftsteller Robert Menasse, den wir vor einer Stunde auf der Frankfurter Buchmesse ans Telefon bekommen haben.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.