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Friedrich Glauser
Der gemütliche Wachtmeister Studer

Mit seinem Romanhelden, dem gemütlichen Studer, hatte Friedrich Glauser wenig gemeinsam. Der Autor war schon seit seiner Jugend drogensüchtig, vor 75 Jahren starb er 42-jährig. Mehrere Verlage widmen sich zum Jubiläum seinem Werk.

Von Tobias Lehmkuhl | 30.12.2013
    Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser im Sommer 1938 in Nervi, wie er an einem Tisch mit Schreibmaschine sitzt.
    Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser im Sommer 1938 in Nervi (picture-alliance / dpa)
    "Herr Schiller findet - und ich bin mit ihm einverstanden -, dass ich eine gewisse Autorität nötig habe. Und es dünkt mich nur natürlich, dass dies die väterliche Autorität ist, die ich allzu lange missachtet habe."
    Hier gelobt einer Besserung, Gehorsam. Und er wird dies immer wieder tun. Noch als 30-Jähriger schreibt Friedrich Glauser Briefe, wie man sie von einem ungezogenen Schuljungen erwarten würde, und nicht von jemandem, der schon als Soldat in der Fremdenlegion gedient hat. Aber aus der Rolle des verantwortungslosen Kindes wird er seinem Vater gegenüber nicht mehr herausfinden. Und auch der vermag in seinen Briefen keinen anderen Ton anzuschlagen, als den des kopfschüttelnden Erziehungsberechtigten:
    "Ich habe Deine Novelle mit Interesse gelesen und werde sie Dir mit einer anderen Sendung zurückschicken. Du hattest Deinen Brief nicht genügend frankiert. Es ist auch sehr bedauerlich, dass Du wegen Deines Leichtsinns und Deiner Nachlässigkeit eine 50-Franken-Note verloren hast, die zur Anschaffung von Schuhen und einer warmen Jacke bestimmt war."
    So problematisch allerdings die Vater-Sohn-Beziehung in der Familie Glauser war - die Mutter starb früh -, kann man sie nicht allein für das Junkie-Leben des Sohnes und seine prekäre Künstlerexistenz verantwortlich machen. Zwar hat sein Vater ihn, als Glauser schon erwachsen war, unter Vormundschaft stellen lassen, aber die Kälte, wie man sie aus den Büchern und Filmen über die "schwarze Pädagogik" der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kennt, scheint es in dieser Familie nicht gegeben zu haben. Charles Glauser konnte zwar wenig mit den Erzählungen seines Sohnes anfangen, aber er versuchte ihn keineswegs vom Schreiben abzubringen. Er spricht vielmehr von der Zuneigung, die in seinem wunden und gepeinigten Vaterherz nie erloschen sei - was zwar etwas melodramatisch und phrasenhaft klingt, aber immerhin doch davon zeugt, dass Gefühle im glauserschen Haushalt - nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit - überhaupt zugelassen waren.
    Es ließe sich also weiter spekulieren, warum Friedrich Glauser früh dem Morphium verfiel und es niemals schaffte, von ihm loszukommen, warum er überhaupt so labil war und selten glücklich. Sicher ist aber nur, dass er als Jugendlicher in ein Landerziehungsheim kam, das wenig günstigen Einfluss auf seine Entwicklung hatte. Dass er sich mit Anfang 20 den Dadaisten vom Café Voltaire in Zürich anschloss, als Tellerwäscher arbeitete, bei Freunden Unterschlupf suchte und schließlich zur Fremdenlegion ging. Dort wollte man ihn wegen seiner schwächlichen Konstitution erst gar nicht haben, dann aber kam er doch auf einen Posten nach Marokko, in den kleinen Ort Gourrama. Hier spielt dann auch später sein erster Roman:
    "Ich muss euch offen sagen, dass ich die zwei Jahre, die ich in der Legion gedient habe, nicht aus meinem Leben streichen möchte. Ich habe viel gelernt. Ich habe Menschen gesehen und ein Land, das schön ist, weil es so streng ist und hart und weil die Leute, die es bewohnen, uns so gar nicht gleichen. Sie sind stiller, stolzer, kindlicher. Ich habe mich oft gefragt, ob es wirklich nötig ist, ihnen unsere sogenannte Zivilisation zu bringen. Sie sind viel glücklicher ohne Giftgasbomben, Schrapnells und Flammenwerfer."
    Im Zürcher Limmat Verlag sind anlässlich von Glausers 75. Todestag nun seine Erzählungen aus der Fremdenlegion erschienen, kleine Stücke, die immer wieder auch von Glausers Talent zeugen, atmosphärisch dichte Szenen zu entwerfen:
    "Um Mitternacht machte der Adjutant die Runde und fand den Toten. Er drehte den Körper mit der Fußspitze um, ließ ihn dann liegen bis zum Morgen. Da suchte er einen alten Hafersack hervor, presste selbst den starren Körper in den Sack und ließ ihn im Bled verscharren. Er beaufsichtigte selbst das Zuschaufeln des Grabes. Eine Erdscholle blieb an seinem Stiefelabsatz hängen. Merde, sagte er und schleuderte unwillig den Fuß nach vorne."
    Geboren wurde Friedrich Glauser 1896 in Wien. Seine Mutter war Österreicherin, der Vater Schweizer. Und auch, wenn Charles Glauser nach dem Tod seiner Frau nach Deutschland ging, bezeichnet man seinen Sohn heute gerne als Schweizer Schriftsteller. Tatsächlich lebte Glauser lange in der Alpenrepublik, besuchte dort eine Gartenbauschule und wurde immer wieder in psychiatrische Kliniken eingewiesen, in denen manch eidgenössischer Arzt ihm fast zum Freunde wurde. Zu einem Schweizer Schriftsteller aber hat ihn vor allem sein Kommissar Studer gemacht. Zwar findet man in den fünf Kriminalromanen stets den ein oder anderen schweizerdeutschen Satz, vor allem aber ist die ganze Atmosphäre von der dörflichen Struktur des Landes in den 30er-Jahren geprägt. Dabei teilt Glauser mit Georges Simenon nicht nur das Talent, eine solche Atmosphäre mittels weniger kräftiger Striche zu kreieren. Wie sein belgisch-französisches Vorbild treibt ihn ebenfalls die Lust an der einfachen, aber schlagenden Figurenpsychologie:
    "Sie, Inspektor, sind wie ein Schwerölmotor. Es braucht lange, bis Sie eine hohe Tourenzahl erreicht haben, aber dann laufen Sie, dann nehmen Sie jedes Hindernis wie ein Traktor, ein Tank."
    Nicht zuletzt ähneln die Ermittlungsmethoden von Maigret und Studer, der Hang, gelassen-weise abzuwarten, einander sehr:
    "Ob sich Herr Studer schon eine Ansicht über den Fall gebildet habe, wollte Krock wissen. - Ansicht? Der Wachtmeister nahm einen Schluck aus der Tasse, wischte sich umständlich den Schnurrbart und meinte dann: Ansichten habe er nie. Er warte, bis er sich eingelebt habe. Dann ergebe sich die Lösung des Falles von selbst."
    Und doch ist Friedrich Glauser viel mehr als bloß ein eidgenössischer Simenon. Ihm fiel das Schreiben längst nicht so leicht. Er versuchte sich zwar am Simenon-Tempo, scheiterte aber regelmäßig. Nur mithilfe erhöhter Morphium-Dosen gelang ihm überhaupt die Fertigstellung der Manuskripte. Die waren dann meist zu lang für die Zeitungsabdrucke, für die sie gedacht waren, also musste er wieder ran und kürzen. Der Diogenes Verlag hat nun sämtliche Studer-Romane in einem schönen Schuber herausgebracht. Allerdings in der Version der Erstdrucke, die sicher nicht exakt den ursprünglichen Vorstellungen Glausers entsprechen. Doch haben sie freilich auch etwas für sich, manche Kürzung dient tatsächlich der Straffung. Auch Glausers Hang, drei Punkte ans Satzende zu hängen, ist hier gebändigt.
    Will man aber die Typoskriptfassungen lesen, kann man zur schön edierten Taschenbuchausgabe im Unionsverlag greifen. In der einen wie der anderen Ausgabe aber wird deutlich, dass Glauser alles andere war als ein Simenon-Imitator. Der Grund für sein langsameres Schreibtempo wird vielmehr jener gewesen sein, dass seine Romane kunstvoller, dichter, gewitzter sind. Von einer Ironie auch, wie man sie bei Simenon nicht findet:
    "Es würde Tränen geben, Frauen waren in solchen Dingen unvernünftig und unbelehrbar. Aber Studer hatte in den 25 Jahren seiner Ehe gelernt, wie man seinen Willen auch gegen Tränen und Klagen durchsetzen kann. Wie? Man rundete den Rücken, zog den Kopf zwischen die Schultern und vergrub die Hände tief in den Taschen der Hosen oder des Kittels. Und wartete, bis der Regen aufhörte."
    Die bemerkenswerteste Veröffentlichung im Jubiläumsjahr bilden schließlich Glausers Briefe. Zwei Bände und 1600 Seiten umfasst die nun vorliegende, um 75 Briefe vermehrte, erstaunlich handliche Neuausgabe. In ihr erlebt man Glauser in den unterschiedlichsten Rollen. Wie eingangs gehört als reuigen Sohn, mal devot, mal sachlich im Umgang mit seinem Vormund, als einfallsreichen und charmanter Schnorrer, als etwas weinerlichen Liebhaber oder auch, als ein Leser einmal seinen Bericht über die Zeit im Landerziehungsheim kritisiert, als Meister wohlgesetzter Beleidigungen:
    "Es waren ja gute Leute, diese Pädagogen vom Landerziehungsheim, nur schade, dass sie so gar nichts vom Leben wussten. Schließlich sind auch Sie, mein Herr, mit dieser lebensfremden Ideologie vergiftet. Das wird Ihnen nichts schaden. Sie werden in Papas Fußstapfen treten, nach jedem Quartal Ihre Rechnungen eintreiben und entrüstet über die Journaille fluchen, die ihr Geld mit Schreiben verdient. Ich wünsche Ihnen allerlei Glück und recht viel Selbstüberhebung. Dann kann es gar nicht fehlschlagen."
    Vor allem aber lässt sich in diesen Briefen beobachten, wie zäh Glauser, dieser vermeintlich labile Morphinist, an seiner Karriere als Schriftsteller arbeitet, wie ausdauernd er darum kämpft, veröffentlicht zu werden. Jahrelang etwa schleppt er den Legionsroman mit sich herum und handelt sich eine Ablehnung nach der anderen ein. Auch sein Wachtmeister Studer hat es nicht leicht. Er sei nur ein armer Schlucker, der höchst selten vom fruchtlosen Grübeln und von den Selbstvorwürfen loskommt, schreibt Glauser dann:
    "Ich bin ja fast überzeugt, dass Sie den Roman nicht nehmen werden. Ich bin nämlich ein so unglaublicher Pechvogel. Und wenn mir einmal irgendetwas gelingt, dann kommt es mir ein wenig wie Hohn vor."
    Beständig steht er mit Verlegern in Kontakt, mit Zeitungsverlegern, die damals häufig auch Buchverleger waren. Sogar eine Agentin hat er irgendwann. Dann aber geht es ganz schnell. Nachdem der erste Studer-Roman veröffentlicht ist, bleiben nur noch zwei Jahre, dann ist Glauser Tod. Ob er, der er nicht sonderlich gläubig war, nun in der Hölle schmorrt oder im Himmel ruht, wissen wir nicht. Vielleicht befindet er sich auch in einer Art jenseitigem Irrenhaus. Dort würde er sich wahrscheinlich ganz wohl, ja womöglich sogar wie zu Hause fühlen:
    "Komischerweise finde ich es immer ganz erholend, ein wenig mit Verrückten zusammen zu sein. Wenigstens glauben die Leute noch an irgendetwas."