Warum hat Friedrich Torberg diesen Roman nie veröffentlicht? Warum hatte niemand von einem Werk mit dem Titel "Auch das war Wien" gewusst, das sich erst fünf Jahre nach dem Tod des Autors in seinem Nachlass fand? Schien es ihm möglicherweise nicht gelungen? Man mag es nicht glauben. Zwar hatte er es unter äußerst angespannten Umständen geschrieben, auf der Flucht vor den Nazis, in Prag, Zürich, Paris, an wechselnden Orten seiner Emigration eben, bevor er 1940 das rettende Amerika erreichte. Aber auch im Chaos verließ ihn weder die hochkultivierte, habsburgisch-vielfältige Sprachkunst noch die Fähigkeit, seine Zeit in einem bunten Typenpersonal aufleben zu lassen.
Nur – was war das für eine Zeit. Und in welche Finsternis führt dieser Roman, der so leichthin an einem Sommertag des Jahres 1937 beginnt, in Salzburg, wo Martin Hoffmann, Hauptfigur und ein wenig auch Torbergs alter Ego, den angenehmen Seiten seines Berufs als Theaterschriftsteller frönt. Wo er seine neue Liebe trifft, eine bekannte Schauspielerin. Sie ist Deutsche und heißt Carola Hell - ein Name wie geschaffen für den Abspann einer Ufa-Schmonzette. Noch ahnt man nicht, dass das kein Zufall ist. Ist irritiert von der mitunter altbacken wirkenden Humorigkeit eines allzu bewährten glossierenden Stils, von Szenen, die statt an einen Roman an einen alten Lustspielfilm erinnern.
Klischeefalle mit doppeltem Boden
Das ironische Kaffeehaus-Genöle der Künstler-Intellektuellen und Journalisten, ihre kleinen Querelen, das Büro des patriarchalischen und überaus ungarischen Theateragenten, die ach so lustige Probebühne des Theaters in der Josefstadt. Ihren doppelten Boden offenbart diese Klischeefalle, wenn Martin sich mit der Stadt auseinandersetzt, die ihnen allen Heimat ist: Wien. Das grantige, antisemitische, verlogene, rührselige, trotzdem über alles geliebte Wien.
"Denn wie angekitscht dies alles auch war; wie vielfach schon verzerrt von jedem sentimentalen oder ironischen Belieben; und zu welch fatalem Recht das greuliche Klischee aus Lächeln und Charme, aus Heurigem und Gemütlichkeit, aus Wiener Lied und Wiener Luft auch bestehen mochte -: es gab inmitten des faulen Zaubers einen wirklichen; inmitten vorschriftsmäßig zur Schau gestellten Lächelns ein in sich gekehrtes, echtes; inmitten einer lärmenden, fremdenverkehrsamtlich überwachten Gemütlichkeit die stille Grazie des Herzens; inmitten der großindustriellen Film- und Operetten-Refrains eine träumerisch stockende Strophe."
Über der auch längst Zitat und Schablone gewordenen kleinen Welt der Kaffeehausliteraten hängt schon am sonnigen Anfang der große braune Schatten, den alle so gern übersehen möchten. Schon lange kann Martin Hoffmann, wie sein Erfinder Friedrich Torberg, als jüdischer Autor in Deutschland nichts mehr veröffentlichen. Das lässt sich regeln, dafür gibt es Pseudonyme. Schlimmer ist die quälende Befangenheit, die der zunehmende Antisemitismus im Inneren des jungen Mannes aussät: zum Beispiel die Angst, für die arische Carola als Jude undiskutabel zu sein. Aber Carola, die "strahlend Desinteressierte", ist auf eine obstinate Art unpolitisch und mit dem antisemitischen Pesthauch nicht zu infizieren. Des Lesers Freude daran währt nicht lang.
Denn das ist Torbergs Trick: Carola und Martin müssen erst ganz konventionell glücklich werden, um als Paar den Gang in die Dunkelheit anzutreten, auf einer Achterbahn schlechter Nachrichten, wachsender Ängste, Entwarnungen und neuer, noch schlechterer Nachrichten. Im Takt wienerisch-musikalischer Kapitelüberschriften, vom Verlag sarkastisch mit biedermeierlichen Blütenvignetten versehen, führt der Weg abwärts vom Salzburger Auftakt über die Aufforderung zum Tanz, die Hitler dem österreichischen Kanzler Schuschnigg zukommen lässt, über einen letzten Walzer trügerischer Hoffnung zum Danse Macabre: den Anschluss ans Deutsche Reich im März 1938. Bejubelt von vielen Österreichern, gefeiert mit scheußlichen Übergriffen gegen jüdische Bürger.
Malstrom der Angst
"Und ist eine andre, gefährlichere Wirklichkeit als gestern noch – Martin vermeint es spüren und greifen zu können, als er die Straße betritt. Andre, gefährlichere Blicke heften sich ihm entgegen aus andern, gefährlicheren Gesichtern. Tatsächlich: Es sind andre Gesichter. Tatsächlich: Es sind andre Menschen. "
Martin, der gutgläubige Patriot, muss endlich begreifen: Auch das ist Wien. Jetzt hat sich auch stilistisch das Blatt gewendet: Torberg, der Meister der kleinen Form, lässt die Ereignisse und die Gedanken seines Helden zu einem großen Malstrom der Angst anschwellen, aus den betulich-heiteren Anfangsszenen wird ein zunehmend atemloser, suggestiver Alptraum, aus dem entschlossenen Verdrängen die Fassungslosigkeit von Menschen, die sehen, das andere Menschen ihnen, ja wirklich, ans Leben wollen, weil sie Juden sind.
"Und er kennt doch die Gegend hier. Sie ist ihm so innig vertraut wie keine sonst auf der Welt, hier ist er geboren und aufgewachsen, hier ist das Geviert seiner Kindheit, es sind doch seine Gassen hier, es ist doch seine Gegend. "
Was Martin, der routinierte Dramatiker, in seinen Stücken immer zuwege bringt, ist ihm selbst nicht vergönnt: ein richtiger Schluss. Stattdessen ein plötzliches Ende, so düster wie offen – an so einem Punkt stand auch der Autor, stand die ganze Welt im Jahr 1940. Warum er sein Werk nie veröffentlichte, wird man nie sicher wissen; von Hinweisen auf eine geplante Fortsetzung ist im Nachwort die Rede, davon, dass Torberg deren Unmöglichkeit einsah und das Ganze einfach "vergaß". Der schreckliche Ausnahmefall Drittes Reich hatte den Publizisten Torberg über die von ihm genial beherrschte Form des Feuilletons weit hinauswachsen lassen. Eingebettet in einen mehrbändigen Historienroman, geschrieben aus der Rückschau des Nachgeborenen, wäre dieser Höllenreigen wohl seiner Wirkung beraubt.
Friedrich Torberg: "Auch das war Wien".
Roman Milena-Verlag, Reihe Revisited 11
Mit einem Nachwort von Edwin Hartl
346 Seiten, Preis 24,90 Euro, ISBN 978-3-85286-240-8
Roman Milena-Verlag, Reihe Revisited 11
Mit einem Nachwort von Edwin Hartl
346 Seiten, Preis 24,90 Euro, ISBN 978-3-85286-240-8