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Friedrich von Borries: "RLF"
Widerstand 2.0

Es gibt kein richtiges Leben im Falschen – lautete ein ebenso berühmter wie umstrittener Satz, den Theodor W. Adorno in seiner "Minima Moralia" äußerte. Der Autor Friedrich von Borries hat nun seine Version eines zeitgenössischen richtigen Lebens im Falschen in Buchform vorgelegt. Herausgekommen ist ein Zwitterwesen, das in der Struktur zerfällt.

Von Enno Stahl |
    In dicken goldenen Lettern, ganz wie zeitgenössische Produktwerbung, steht es auf dem Buchcover – RLF. Der Untertitel "Das richtige Leben im Falschen" löst dieses Buchstabenkürzel auf. Diese offenkundige Adorno-Reminiszenz verheißt recht viel, verheißt mehr als nur Literatur. Und tatsächlich: RLF ist nicht nur der Roman, sondern ein genreübergreifendes Projekt, Friedrich von Borries erklärt, worum es geht:
    "Ja, RLF hat mehrere Ebenen, da ist zum einen der Roman, der die Geschichte erzählt, zum anderen sind die Produkte, das Unternehmen, was in RLF beschrieben wird, in Realität vorhanden. Und dann gibt es noch Sachen, die in dem Buch vielleicht nur angedeutet sind oder in dem Vorgängerroman 1WTC angedeutet sind, es gibt derzeit auch ein Spiel, das man auf rlf-propaganda.com spielen kann, wo man aus dieser passiven Haltung, die wir alle kennen und wahrscheinlich teilen, zu aktivem gesellschaftlichem Engagement geführt werden soll. Insofern ist der Roman Teil eines größeren Konstruktes, der versucht, die gesellschaftlichen Bedingungen zu reflektieren und ein Stück weit zu ändern. "
    Die Geschichte des Buches RLF ist schnell zusammengefasst: Der Hamburger Kreativdirektor Jan gerät in die Londoner Riots und wird davon so sehr angesteckt, dass er beschließt, zusammen mit einigen Aktivisten, eine Art Guerilla-Unternehmen zu gründen. Eben "RLF", das den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln bekämpfen möchte, durch Produkte für den Widerstand. Am Ende allerdings kommt Jan durch einen Unfall ums Leben.
    Erzählt wird das alles in recht heterogener Form: Das Buch beginnt als Krimi, ein unbekannter Toter in Venedig wird gefunden. Ein Ich-Erzähler, der nur am Anfang und am Ende auftaucht – eine unmittelbare Autorfiktion von Borries' – behauptet, das iPhone des Toten, nämlich Jans, bekommen zu haben. Anhand der darin gespeicherten Daten rekonstruiert er nun die ganze Geschichte, den Aufbau des Unternehmens RLF. Am Ende erklärt der Ich-Erzähler, dieses Unternehmen nun weiterzuführen, was in der Wirklichkeit der Autor von Borries tut.
    Die Erzählung wird immer wieder unterbrochen durch terminologische Einschübe, Kurzbiografien real existierender Publizisten, Theoretiker oder Aktivisten. Mit einigen von ihnen, etwa Stéphane Hessel, Oliviero Toscani, Harald Welzer, Hakim Bey oder der FEMEN-Aktivisten Schewtschenko hat von Borries Interviews geführt. All das wird Teil des narrativen Komplexes, eine Art Beglaubigung der Wahrhaftigkeit des Erzählten. Was ist der Hintergrund dieser Methodik?
    "Also meine Heimat ist ja nicht die Schriftstellerei, ich würde mich ja nicht als Romanautor bezeichnen. Meine Heimat ist eigentlich eher der akademische Betrieb und die Entscheidung, Romane zu schreiben, kam aus dem Bedürfnis, für die Themen, die ich für relevant halte, ein größeres Publikum zu erreichen, als man das normaler Weise mit klassisch wissenschaftlichen Büchern tut. Also über eine Spannungsstruktur, wie der Thriller, der Krimi sie aufweist, ein Publikum anzuziehen, und dem "heimlich" in Anführungszeichen gesellschaftspolitische Fragenstellungen und auch Informationen unterzuschieben. Das kann dann natürlich nicht die Dichte und Tiefe haben wie das klassische wissenschaftliche Sachbuch, aber bringt dann Leute, glaube ich, doch einmal auf Gedankenbahnen, die sie sonst vielleicht nicht einschlagen würden."
    Diesen Zwittercharakter merkt man dem Roman an, die Sprache ist oft kolportagehaft, die Dialoge kommen holprig und bemüht daher. Alles wird immer ganz genau erklärt, nie etwas offen- oder ausgelassen, dass der Leser es selbst ergänzen könnte. Es scheint, als walte eine übergroße Sorge, das Kommunikationsziel nicht zu erreichen. Da es also offensichtlich schwerpunktmäßig um Informationsvermittlung geht, handelt es sich bei RLF um so etwas wie "Infotainment"?
    "Ich glaube, Infotainment ist ein Negativbegriff, den ich mir jetzt nicht so wahnsinnig gerne anziehen würde. Es ist eine Vermittlungsstrategie, die den Rezeptionsbedürfnissen und Realitäten unserer Gegenwart entspricht. "
    Dieser strategische Bezug zur Zeitgenossenschaft ist allerdings deutlich – Widerstand 2.0 als unterhaltsames Spiel. Man fragt sich, ist diese Vermischung von subversiven Werten und Verwertung, die sowohl der Idee des Unternehmens "RLF" als auch dem gleichnamigen Buch zugrunde liegt, eher fragwürdig oder sehr ausgeklügelt? Oder beides? Dann nämlich, wenn man unterstellt, dass RLF, Buch wie Projekt, an sich selbst vorführt, wie in der Marktwirtschaft alles, was nur einen Hauch von Aufmerksamkeits-, also Verwertungspotenzial verströmt, zwangsläufig derselben zugeführt wird. Was bedeuten würde, dass es bei RLF also weniger um Marketing für bestimmte kritische Ideale ginge, sondern um Marketing für sich selbst und sonst nichts. Daher fragt man sich schon, was hat das noch mit Adorno zu tun?
    "Zu Adorno gibt es verschiedene Anknüpfungspunkte, der sichtbarste ist natürlich der Titel RLF als Akronym für "Das richtige Leben im Falschen", von dem Adorno ja bekanntermaßen behauptet hat, dass es das nicht gäbe, um sich dann später wieder zu korrigieren und zu sagen, das gäbe es womöglich doch, und zwar als Form des Widerstands. Die zweite - über diese sprachliche und inhaltliche Bezugnahme hinaus - Beziehung zu Adorno ist natürlich die ganze Frage des Verblendungszusammenhangs, der sich durch das Buch und das Gesamtprojekt hindurch zieht, angefangen beim Cover, das mit einer op-art-orientierten und mit glänzendem Gold versehenen Grafik, glaube ich, Verblendungszusammenhänge direkt thematisiert als auch die ganze Konstruktion der Geschichte, wo es ja stark um Marketing, um Werbung, um Konsum geht. Insofern ist es eine Wiederaufnahme der Fragen, die Adorno im Zusammenhang mit der Kulturindustrie reflektiert hat, in – wie ich sagen würde – heutiger, zeitgemäßer Form, aber das ist schon wieder ein Wertung, die mir hier eigentlich nicht zusteht."
    Gibt es denn ein richtiges Leben im Falschen und wenn ja, wie könnte das aussehen?
    "Harald Weltzer, der ja auch einer der Interviewpartner von Jan, der Hauptfigur in diesem Buch, ist, sagt dazu, dass es kein richtiges Leben im Falschen gebe, weil das wieder so ein absoluter Begriff wäre, aber zumindest doch ein richtigeres. Und das ist letztlich die Frage, die sich jeder von uns stellen muss, welche Form von Widerstand oder Widerständigkeit traut er/sie sich zu, zu was ist man in der Lage. Für den einen ist es vielleicht schon, dass er politisch aktiv wird, für den anderen ist es eine Form von Konsumverweigerung, für andere ist es ein Aussteigen, ich glaube, das muss ein Stück weit jeder für sich selbst entscheiden, aber das Wesentliche ist, dass doch zumindest ein richtigeres möglich ist, und wenn vielleicht ist dieses absolute Bild des richtigen Lebens genauso falsch ist wie das absolute Bild des Falschen. "
    Ähnelt das Vorgehen des Autors Friedrich von Borries nicht dem seines Protagonisten? Denn wie Jan quasi undercover in die Widerstandsbewegung einsteigt und binnenökonomische Guerillataktiken entwirft, agiert von Borries selbst. So wie Jan sich Info-Dossiers zusammenstellt, tut dies auch sein Autor. Gibt es also eine strukturelle Vergleichbarkeit beider Strategien?
    "Also ich finde die Frage unheimlich schwierig, weil sie sich auf so unterschiedlichen Ebenen beantworten lässt. Die eine Ebene ist, dass oft Autor und Hauptperson verwechselt werden und dass das nicht der Sinn von Literatur ist. Die zweite Ebene ist, dass ich im Rahmen dieses Gesamtprojekts von RLF ja jetzt die Rolle eingenommen habe des Geschäftsführers von RLF, die vorher Jan hatte, und jetzt zu Ende führen muss, was er angedacht hat, so dass wir auf unterschiedlichen Ebenen, einmal auf der Ebene der literarischen Konstruktion das reflektieren könnten und dann auf der Ebene des faktualen Handelns von RLF als real existierendes Protestunternehmen, und das macht die Frage so ein bisschen schwierig. Wenn wir es auf der Literaturebene betrachten, dann steht dem klassischen 'Hauptfigur und Romanautor sind nicht miteinander zu verwechseln' ein 'Ein Autor kann sich nur eine Figur ausdenken, in die er sich einfühlen kann mit eigener oder beobachteter Erfahrung', insofern gibt es da natürlich Elemente, die sich überschneiden. Auf der realen Ebene bin ich ja gezwungen gerade, bestimmte der Strategien, die Jan entwickelt hat, einzusetzen und fortzuführen in meiner Rolle als sein Nachfolger, als Geschäftsführer von RLF."
    Von Borries als Nachfolger Jans, der weiterführt, was dieser, also seine Romanfigur, ersonnen hat – wenn das nicht ein schelmisches Vexierspiel zwischen Authentizität und Fiktionalität literarischen Gestaltens ist. Im lustvollen Reflektieren auf realweltliche Doppelbödigkeiten ist RLF sicher komplex und interessant, zumal die gesellschaftlich konstruktiven Absichten gar nicht in Abrede zu stellen sind. Ästhetisch gesehen überzeugt das Buch weniger, die Struktur zerfällt, die vielen Info-Einsprengsel zerstören den Plot, der sich im hinteren Teil des Buches nahezu ganz verabschiedet, bis dann der eigentliche Schlusspunkt doch noch mit einer gewissen Lösung aufwartet. Es bleiben gemischte Gefühle, allerlei interessante Informationen und die Frage, ob zur Übermittlung derselben die Romanform wirklich das beste Vehikel darstellt.
    Friedrich von Borries: "RLF"

    Suhrkamp Verlag, 251 Seiten, 13,99 EUR