Dienstag, 19. März 2024

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Frontex und Migranten-Pushbacks
"Ich fürchte, der Aufklärungswille ist nicht besonders groß"

Frontex soll in illegale Rückführungen von Flüchtlingen verwickelt gewesen sein. Die EU-Kommission hat deswegen ein Treffen mit der EU-Grenzschutzbehörde angesetzt. Der Migrationsexperte Gerald Knaus kritisierte im Dlf, dass in der Frage der Zurückstoßung von Flüchtlingsbooten eine Scheindebatte geführt werde.

Gerald Knaus im Gespräch mit Frederik Rother | 10.11.2020
Migranten fahren in einem Boot, kurz bevor sie ein Dorf auf der griechischen Insel Lesbos erreichen über die Ägäis von der Türkei aus kommend.
Migranten auf der Ägäis an der griechischen Grenze (dpa-bildfunk / AP / Michael Varaklas)
Mitarbeiter der EU-Grenzschutzagentur sollen in der Nähe gewesen sein, als griechische Grenzschützer ein Schlauchboot mit Migranten auf dem offenen Meer Richtung Türkei zurückgedrängt haben. Diese sogenannten Pushbacks sind illegal, Frontex soll in mehrere Fälle dieser Art verwickelt sein.
Die Berichte wurden von einem internationalen Recherchenetzwerk veröffentlicht und haben für viel Wirbel gesorgt. Frontex hat eine Untersuchung der Vorwürfe angekündigt. Auch die EU-Kommission hat reagiert und für Dienstag (10.11.20) ein Treffen des Frontex-Verwaltungsrates einberufen. Darin sitzen Vertreter der Mitgliedsstaaten, aber auch der EU-Kommission.
Was ist von dem Treffen zu erwarten? Dazu weiß Gerald Knaus mehr. Er leitet die Berliner Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, die unter anderem die Politik beim migrationspolitischen Fragen berät.

Frederik Rother: "Wir nehmen diese Angelegenheit sehr ernst." Das sagte ein Sprecher der Kommission Ende Oktober. Wie stark ist denn aus Ihrer Sicht heute der Aufklärungswille?
Gerald Knaus: Also ich glaube, dass es in der Kommission und auch bei der hier engagierten Kommissarin Ylva Johansson sicherlich den Willen gibt, diese Dinge aufzuklären. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das für alle Kommissare gilt und vor allem für die Mitgliedsstaaten. Und ich stelle mir schon auch die Frage, ob wir hier nicht zum Teil eine Scheindebatte führen. Ob Frontex in der Nähe von Pushbacks war, ist ja nicht die entscheidende Frage.
Wir haben eine europäische Grenzschutzmission vor Ort, deren Aufgabe es ist, mit allen Ressourcen alles zu beobachten, was an dieser Grenze passiert und jeder Journalist, jede internationale Organisation, ja selbst Privatpersonen, die in den letzten Monaten in der Ägäis waren, haben natürlich Pushbacks gesehen. Und Frontex, deren Aufgabe es ja auch wäre, darauf hinzuweisen, die Kommission, deren Aufgabe ja auch wäre ein Mitgliedsland – weil das nicht Frontex macht, sondern nationale Grenzschützer – darauf hinzuweisen, dass hier EU-Recht gebrochen wird, die haben jetzt monatelang nichts getan. Also, es ist zu hoffen, dass etwas passiert, aber ich fürchte, der Aufklärungswille wird auch jetzt nicht besonders groß sein.
Regelmäßige Berichte über mutmaßliche Pushbacks
Rother. Sie sprechen von einer Scheindebatte. Worüber sollte man denn aus Ihrer Sicht heute dort diskutieren?
Knaus: Ja, ganz grundsätzlich, dass wir wissen, es werden Boote zurückgestoßen. Die New York Times hat Anfang August von 1075 Fällen gesprochen. Die IOM hat am 10. Juni schon alarmierend gewarnt, Aufklärung und Untersuchungen gefordert. UNHCR hat das getan im Juni im August. Wir wissen, dass es passiert, und wir wissen auch, warum es passiert.
Die griechischen Behörden setzen auf Pushbacks, also auf Rechtsverletzungen an der Außengrenze. So wie wir ja auch auf die Abschreckung durch schlechte Lebensbedingungen auf den Inseln setzen, weil wir keine andere Strategie haben, um die Grenzen und irreguläre Migration zu kontrollieren. Und die wirkliche Frage ist, wann arbeiten wir an einer Strategie, irreguläre Migration dort so zu kontrollieren, dass wir nicht EU-Recht brechen und nicht die Menschenwürde der Menschen verletzen?
Darüber müsste man reden, darüber müsste man diskutieren. Ob wir das jetzt wissen oder nicht, ist natürlich wichtig im juristischen Sinne, aber natürlich wissen wir, was derzeit in der Ägäis passiert.
Fabrice Leggeri, Vorstand der Europäischen Grenzschutzbehörde FRONTEX bei einer Pressekonferenz am 21.05.2015 in Warschau.
Sieht seine Behörde Vorwürfen ausgesetzt: Fabrice Leggeri, Chef der Europäischen Grenzschutzbehörde Frontex (AFP / WOJTEK RADWANSKI)
Immer weniger Migranten aus der Türkei
Rother: Schauen wir noch einmal kurz auf die Arbeit von Frontex. Wie transparent ist denn das, was die Agentur macht? Ist dort genügend bekannt.
Knaus: Ich sage noch einmal, wenn Journalisten schnell herausfinden, was los ist, und wir haben hier eine große Mission mit Grenzschützern aus ganz Europa, die seit Monaten vor Ort sind, deren Aufgabe es ja eigentlich ist, zu beobachten, was passiert, dann muss es intern natürlich Analysen geben, denn die Pushbacks sind derzeit die dominierende Strategie Griechenlands, um irreguläre Migration in der Ägäis zu stoppen. Wir haben noch nie so wenige Menschen gehabt, die über das Mittelmeer aus der Türkei gekommen sind. Im Mai waren es 229, im Juli 314, im August 456. So wenige Leute haben Griechenland offiziell noch nie erreicht. Wie ist das passiert?
Ja, die Antwort ist eigentlich offensichtlich. Und natürlich muss es bei Frontex – wenn diese Organisation nicht eine Augenbinde trägt und Augen und Ohren verschließt, wenn sie beobachtet, was im Mittelmeer mit irregulärer Migration in der Ägäis passiert – natürlich muss es da interne Berichte geben, das kann gar nicht anders sein, sonst würde sie ihre Aufgabe nicht erfüllen.
"Müssen Wege finden, mit der Türkei zusammenzuarbeiten"
Rother: Am Freitag wollen sich die EU-Innenminister treffen. Das Thema dann ist natürlich die europäische Asylreform, da wird ja seit langem darüber gesprochen und da gibt es jetzt ein Kommissionsvorschlag. Wird sich denn aus Ihrer Sicht bei diesem Treffen oder auch danach jetzt in den kommenden Wochen, Monaten was ändern bei dieser Problematik? Das Problem scheint er bekannt zu sein.
Knaus: Ja, das Grundproblem ist, und da kommen wir zum Kern auch der Debatte über die Pushbacks, dass es viele EU-Mitgliedsländer gibt, die so etwas Ähnliches ja schon seit Langem fordern. Es ist ja nicht nur in der Ägäis so, dass wir solche Rechtsverletzungen haben. Wir haben jetzt seit Jahren Berichte, erst vor kurzem wieder von einer anerkannten skandinavischen Nichtregierungsorganisation, über Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze, wo Menschen auch brutal behandelt werden. Wir haben seit Jahren in Ungarn ein Asylrecht, wo Menschen ohne jedes Verfahren einfach auf die serbische Seite des ungarischen Grenzzauns gesetzt werden.
Also wir haben hier viele EU-Mitgliedsstaaten, die mit dem Status quo der permanenten Rechtsverletzungen gut leben können. Und die Schwierigkeit ist jetzt für Länder wie Deutschland – und es gibt ja auch viele andere, die zwar auch Grenzkontrollen wollen und irreguläre Migration reduzieren wollen, die aber nicht bereit sind, und wo auch die Öffentlichkeit mehrheitlich nicht bereit ist, das um den Preis von Menschenrechtsverletzungen, Rechtsverletzungen zu erreichen – diese Länder müssen Vorschläge machen. Und in der Ägäis bedeutet das, wir müssen auch wieder Wege finden, mit der Türkei zusammenzuarbeiten, was schwierig ist, aber unvermeidlich. Denn das, was wir derzeit haben, ist das Ende der Flüchtlingskonvention und der Zustand der Rechtslosigkeit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.