Durak: Frau Mattenklott, weshalb können so viele dieser Kinder und Jugendlichen nicht richtig lesen?
Mattenklott: Die Gründe sind sicher vielfältig. Man kann das sicher nicht auf einen einzigen Grund zurückführen, das ist ja bei solchen komplexen Fragen immer so. Aber eine Sache könnte sein, dass viel zu früh nicht genügend die Lust am Lesen geweckt wird. Wenn die Kinder 13 oder 15 sind, ist es ja letztlich schon zu spät dafür. Wir wissen ja, welche große Bedeutung die Früherziehung hat und da muss eigentlich das Fundament für eine Leselust gelegt werden. Das liegt natürlich ganz stark an den Eltern, aber Eltern machen ja keine Schule durch. Aber zum Beispiel die Erzieher in den Kindergärten und in den Krippen bereits könnten natürlich besser ausgebildet werden, damit sie auch selber diese Leselust haben und die auf Kinder übertragen können. Das betrifft Lehrer und Lehrerinnen in der Grundschule natürlich genauso, das sind ja so die ersten prägenden Jahre für die Leselust.
Durak: Sind die ersten prägenden Jahre nicht doch bei den Eltern zu finden, in der ersten Zeit Geschichten erzählen, Märchen vorlesen, Gute-Nacht-Geschichten erzählen, Bücher zur Hand nehmen, buchstabieren?
Mattenklott: Das ist ganz sicher so. Das haben auch neuere Untersuchungen erwiesen, dass die wichtigste Rolle die Familie spielt. Nur bei den Familien ist es schwer ranzukommen, wenn die Eltern einfach bildungsfern sind, wenn sie keine eigene Beziehung zu Büchern haben...
Durak: Woran liegt das, Frau Mattenklott, dass die Eltern nicht richtig lesen wollen?
Mattenklott: Das hängt mit bestimmten sozialen Schichten zusammen. Es ist ja nicht überall so. Aber es ist wahrscheinlich so, dass in unseren Schulen auch langfristig keine literarische Kultur zu finden ist, oder nur in wenigen Schulen. Es gibt ja Schulen, die gut abgeschnitten haben, auch bei dem letzten Pisa-Test vor drei Jahren. Es ist ja nicht so, dass es generell nur ein Jammertal ist. Man kann ja auch unterscheiden und man kann sehen, dort wo Schulen sind, die es zum Beispiel verstehen, eine richtige künstlerisch-literarische Atmosphäre zu schaffen, dass die Kinder dort ja wirklich lesen. Da kann die Schule auch schon viel ausrichten. Die muss ja einfach kompensieren, weil viele Eltern ja nicht zu erreichen sind. Um Eltern zu werden braucht man ja keine Ausbildung.
Durak: Das ist aber schon immer so gewesen. Das hat sich ja nicht geändert, man wird einfach Vater oder Mutter. Gehört es nicht mehr zum guten gesellschaftlichen Ton, dass man liest, dass man Bücher zu Hause hat oder sich ausleiht und mit den Kindern ein längeres Gespräch pflegt?
Mattenklott: Ich bin nicht sicher, ob das früher wirklich so viel besser gewesen ist. Wir neigen ja oft dazu, die Vergangenheit zu verherrlichen. Auch da waren es bestimmte Schichten, in denen gelesen wurde und auch andere weite Schichten haben nicht gelesen. Das hat man nur vielleicht noch nicht so oft getestet. Also ich glaube nicht, dass das der große Unterschied ist. Vielleicht ist insgesamt in unserer Gesellschaft Literatur nicht sehr hoch bewertet. Wenn ich manchmal selbst von Kollegen höre, wie geringschätzig Literatur oft eingeschätzt wird, selbst von Menschen, die eigentlich davon leben, dass sie ständig lesen, dann wundert man sich ja manchmal.
Durak: Was erfahren Sie als Grund dafür?
Mattenklott: Die haben selber so Sachen gesagt, wie - es gibt ja auch Erwachsene, die das cool finden, wenn sie sagen: "Ach, das Leben ist doch viel toller als das Lesen." So was kann man ja heute lesen, selbst von Literaturwissenschaftlern. Das ist wahrscheinlich so ein gewisser Trend, der sich so durchgesetzt hat, wo die literarische Tradition - Sie haben Heine erwähnt, man könnte auch Goethe nennen - zum alten Eisen gehört. So überträgt sich das natürlich auch auf Kinder. Bruno Bettelheim hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass Kinder gut und gerne lesen lernen, wenn sie wissen, dass die Erwachsenen diese Texte in den Büchern hoch schätzen, zum Beispiel in religiösen Kulturen, wo das heilige Bücher sind. Je höher die Schätzung des Buches in einer Gesellschaft ist, desto besser lernen auch Kinder lesen, weil sie erwachsen sein wollen.
Durak: Da ist Deutschland auf einem schlechten Weg, armes Deutschland.
Mattenklott: Naja, vielleicht gibt es Probleme, aber man kann ja auch einiges verbessern, das geht natürlich nicht so schnell. Das dauert seine Zeit.
Durak: Gemeinsam lesen. Also brauchen wir mehr Geschichten wie Harry Potter?
Mattenklott: Zum Beispiel mehr Kinder- und Jugendliteratur in Kindertagesstätten, in Schulen. Das wäre schon mal toll. Es müssen nicht immer nur die teuren Computer sein, die sind zwar wichtig. Aber wenn wir tolle Bücher in den Schulen hätten... Ich kenne solche Schulen, wo mal Bücher hinkommen und wie begeistert die Kinder dann sind. Bücher sind sogar billiger. Da kann man auch was machen, es muss nicht nur Harry Potter sein, aber warum nicht auch Harry Potter?
Durak: Verdirbt viel Fernsehen den Lesecharakter?
Mattenklott: Da bin ich sehr skeptisch. Das haben die Untersuchungen nicht belegt, dass das Fernsehen an allem schuld ist. Das haben ja die anderen Länder auch, die leben ja auch nicht jenseits des Fernsehens. Offensichtlich ist es ja so, dass Kinder und Jugendliche, die mit verschiedenen Medien umgehen, auch mit dem Buch umgehen. Das muss sich nicht ausschließen, die Fernsehkultur, die Computerwelt, die digitale Welt und die Lektüre, das ist erwiesen. Natürlich gibt ist die Familien, wo den ganzen Tag nur der Fernseher läuft und gar keine Konzentration möglich ist. Aber das alleine kann es nicht sein, denn andere Länder haben ja - wie gesagt - auch Fernseher.
Durak: Wir rufen auf zum Lesen eines guten Buches oder Hörbuches oder ein gutes Radioprogramm. Besten Dank, Frau Professor Gundel Matteklott war das, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität der Künste zu Berlin.