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Fünf Jahre nach den Protesten in London
"Tottenham bietet Chancen"

Vor fünf Jahren kam es im Londoner Stadtteil Tottenham zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Ausgangspunkt war der Tod eines jungen Schwarzen, der bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde. Seit den Vorfällen im August 2011 hat sich dem Londoner Viertel viel geändert.

Von Gerwald Herter | 06.08.2016
    Polizeistation in Tottenham.
    Vor der Polizeistation in Tottenham herrscht heute Ruhe. Vor fünf Jahren glichen ganze Straßenzüge von Tottenham einem Bürgerkriegsgebiet. (Deutschlandradio/Gerwald Herter)
    Kleinkinder zerren Packungen aus den Regalen. Mütter legen sie wieder zurück und schieben ihre Einkaufswagen rasch in Richtung Kasse. Diese Aldi-Filiale gleicht hunderten anderen Supermärkten in London - ein moderner Flachbau, vorne große Fenster und hinter dem Gebäude Parkplätze. Vor fünf Jahren aber war wohl kein anderer Supermarkt so oft im Fernsehen zu sehen, wie dieser Laden in Tottenham, denn während der Unruhen ging er in Flammen auf.
    An der Tottenham-High-Road hatte alles begonnen, ein Fitnesscenter, Zeitungsläden, Gemüse- und Fischhändler, kleine Juweliere und Uhrmacher - eine einzige Reihe von Läden. Ein paar hundert Meter weiter, von der großen Kreuzung aus, kann man schon die Polizeistation sehen. Die Familie von Marc Duggan war dort hingezogen, um zu erfahren, was nach seinem Tod geschehen solle. Doch sie seien abgewiesen worden und das sei ein Fehler gewesen, sagt dieser Mann, der aus Pakistan stammt. An dem Abend, als alles begann, hatte er in einem Geschäft, ganz in der Nähe gearbeitet und von dort aus alles verfolgt. Er traute seinen Augen nicht:
    "30, 40 Leute waren es zunächst – sie wollten eigentlich nur protestieren. Dann begannen sie die Straße zu blockieren. So gegen 7.00 Uhr abends waren es auf einmal mehr als 200 Menschen. Dann kamen Polizisten hinzu. Und es ging los. Ich war ziemlich überrascht, das - in diesem Land!"
    Hilflose Polizei
    Ganze Straßenzüge von Tottenham glichen schon einige Stunden später einem Bürgerkriegsgebiet. Zu wenige Polizisten schafften es nicht, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Immer wieder wurden sie mit Steinen beworfen, Gebäude brannten aus, dunkler Qualm zog durch die Straßen. Die Besatzung eines Polizeihubschraubers konnte die Straßenschlacht zwar filmen, doch der diensthabende Schichtleiter in Tottenham bekam in dieser Nacht keine Verstärkung mehr. Dass die britische Polizei kaum über Wasserwerfer verfügt, darüber wurde später viel diskutiert. Und warum konnte sie die Geschäfte nicht schützen? Einer der Beamten erinnert sich:
    "Einer rannte mit einem riesigen Plasma-Bildschirm an uns vorbei. Da war uns klar: das Einkaufszentrum wurde geplündert."
    So wehrlos war die Metropolitan-Police in den folgenden Nächten nicht mehr. Die Proteste verlagerten sich, die Menschen in Tottenham waren aufgebracht: über die Verwüstungen - eine Katastrophe, gerade für die Besitzer kleinerer Läden - aber auch über die Rolle der Polizei, der Hauptvorwurf – Rassismus:
    "Ich habe einen Sohn, der von der Polizei so oft angehalten wird, dass ich nicht mehr mitzählen kann."
    Das war vor 5 Jahren.
    Vor allem schwarze Jugendliche werden kontrolliert
    Die "Stop-and-Search-Einsätze" der Londoner Polizei stehen immer noch in der Kritik, weil schwarze Jugendliche überdurchschnittlich häufig kontrolliert werden. Sogar der Chef der Metropolitan-Police hatte eingeräumt, dass es dort "institutionellen Rassismus" gebe. Eugene Ayisi ist Stadtrat im Borough Haringey, zu dem Tottenham gehört. Auch er kritisiert diese "Stop-and-Search-Einsätze":
    "Wir haben da ein Problem, aber ich denke wir haben es erkannt und längst ist es Thema vieler Diskussionen und der Medien. Wir arbeiten hier in Tottenham dran, auch mit dem neuen Polizeichef, um das wieder in Ordnung zu bringen".
    "Triff deine Nachbarn": Die Polizei versucht den Kontakt zur Bevölkerung zu pflegen.
    "Triff deine Nachbarn": Die Polizei versucht den Kontakt zur Bevölkerung zu pflegen. (Deutschlandradio/Gerwald Herter)
    Ayisi wurde in Ghana geboren, jetzt ist er im Bezirk Haringey für die Polizei und die Einwanderergruppen verantwortlich. Vor fünf Jahren gehörte er noch nicht dem Stadtrat an. Seit den Unruhen, sagt er, habe sich einiges gebessert:
    "Es gibt so viele positive Entwicklungen in Tottenham. Ein Grund für die Unruhen war sicher, dass sich die jungen Leute abgeschnitten fühlten, ausgeschlossen. Sie kamen da einfach nicht raus. Die Regierung hat Gelder gestrichen, wir im Stadtrat haben aber zugehört. Die Arbeitslosigkeit ging runter, die Beschäftigungsrate hoch. Tottenham bietet Chancen."
    Situation in Tottenham verbessert sich langsam
    Das glaubt auch Pauline Gibson, die auf der Highstreet unterwegs ist. Sie ist in London geboren, in den 50er-Jahren waren ihre Eltern aus Jamaika hierhergekommen, wie so viele andere auch. Pauline fühlt sich nicht diskriminiert:
    "Was ich Dir sagen kann: es ist ruhig hier, nicht irgendwie angespannt. Und es wird Zeit, dass wir nach vorne schauen. Bei uns hier passiert viel. Und wir haben viel Respekt füreinander".
    Pauline bemüht sich um ein positives Bild von Tottenham.
    Pauline bemüht sich um ein positives Bild von Tottenham. (Deutschlandradio/Gerwald Herter)
    Und sie fordert auch Respekt für Tottenham, gerade weil dieser Stadtteil durch die "London Riots" international bekannt geworden ist.
    "Respekt und Liebe füreinander und Zusammenhalt, so betrachte ich diese Gemeinschaft. Jeder kann sich hier zu jedem setzen, egal, wo er herkommt oder ob er schon in der zweiten Generation britisch ist. Wir sind alle Menschen aus Tottenham".
    200 Sprachen würden hier gesprochen, hatte der Stadtrat gesagt, Pauline geht auch an diesem Tag in einem kleinen Einkaufszentrum vorbei, wo es fast ausschließlich kolumbianische Geschäfte gibt. Tottenham ist vor allem für seine karibischen Einwanderer bekannt, aber hier, nahe der U-Bahn-Station "Seven-Sisters" wirkt es eher wie Klein-Kolumbien. Außerdem haben sich in Haringey in den letzten Jahrzehnten auch viele Türken angesiedelt. Pauline Gibson sagt, sie verstehe sich mit allen und sie hofft, dass es in Tottenham nie wieder zu Unruhen kommt:
    "Ich bin nicht Gott. Es wäre falsch zu sagen, es wird oder es wird nicht passieren. Es war nicht das erste Mal, dass es in diesem Land dazu kam. Alles ist möglich, ich könnte das nicht vorhersagen".