Ein Geräusch, das Ende Mai Anfang Juni 2013 jeden Abend in vielen Istanbuler Wohnvierteln zu hören war. Die Konzerte auf Töpfen und Pfannen galten als Unterstützung für die Demonstranten im Gezi-Park. Wer fünf Jahre nach den Gezi-Protesten über den Istanbul Taksim-Platz geht, wird mit unterschiedlichsten Eindrücken konfrontiert: Zum einen wurde der Platz vergrößert. Wo zuvor der Verkehr tobte, schlendern jetzt Spaziergänger. An der Westseite des Platzes werkeln Bauarbeiter am Rohbau einer neuen, großen Moschee, während gegenüber das Atatürk-Kulturzentrum abgerissen wird.
Allerdings soll das ehemalige Opernhaus wieder aufgebaut und erneut als Kulturtempel genutzt werden. Das Entscheidende ist aber der Blick auf den Gezi-Park: Die Bäume, um die damals gekämpft wurde, stehen zum größten Teil noch. Eine Mutter dieses Erfolgs heißt Mücella Yapaici. Die Archtiektin ist Mitbegründerin der Taksim-Solidaitätsplattform. Sie erinnert sich noch gut an den 27. Mai 2013:
"Der Tag, an dem sie die Bäume unrechtmäßig fällen wollten. Wir gingen dort hin, um zu protestieren. Innerhalb weniger Stunden stömten massenhaft Bürger in den Park, um zu protestieren"
Erste große Verteidigung eines öffentlichen Raums
Mit dem Segen der Regierung in Ankara sollte in dem Park ein Einkaufszentrum entstehen mit der Fassade einer Kaserne, die dort in osmanischer Zeit einmal stand. Es gab viele umstrittene Bauvorhaben in Istanbul, aber Gezi war etwas Besonderes:
"Bis Gezi ging es bei Protesten gegen geplante Baumanßnahmen in der Regel ums eigene Haus oder allenfalls das Wohnviertel. Gezi war die erste große Verteidigung eines öffentlichen Raums, der allen gehört und mit all seiner Symbolik auch so etwas wie ein Teil des kollektiven Gedächtnisses der Stadt darstellt. Das war ein Meilenstein, ein historischer Moment"
Am Anfang waren es vor allem junge Leute, die ihre Zelte im Gezi Park aufstellten. Ihr Protest entfaltete eine in der Türkei so noch nie dagewesene Kreativität. Ihre Transparente, Videoinstalllationen und Tänze lockten jeden Abend Tausende Menschen in den Park - es herrschte Festivalstimmung. Die unterschiedlichsten Gruppen schlossen sich den Protesten an: Muslime, Atheisten, Kurden, Aleviten, Schwule, Lesben, Patrioten und tausende Fußballfans. Mücella Yapici verbrachte jeden Abend im Gezi-Park. Besonders in Erinnerung ist ihr der Abend eines islamischen Feiertages:
"Im Gezi-Park tranken insbesondere die jugendlichen Demonstranten ja gerne das ein oder andere Bier. Aber am Kandil-Abend, als die antikapitalistischen Muslime beteten, hat niemand Alkohol getrunken - und das war nicht abgesprochen. Es war eine Selbstverständlichkeit. Alle, einschließlich der Atheisten, haben sich um die Betenden gescharrt, um sie zu schützen."
Auch für Ihsan Eliacik war das ein bewegender Moment. Der führende Kopf der Organisation Antikapitalistische Muslime hatte das Gebet damals geleitet.
"Die Regierung versuchte die Demonstrationen als einen Protest von Unglaeubigen gegen die religiöse Führung darzustellen. Als aber das Freitagsgebet dort abgehalten wurde, hat die Weltöffentlichkeit erkannt, dass es etwas anderes mit den Protesten auf sich hat. Die Gezi-Demonstrationen entwickelten sich zu einer breiten Bürgerbewegung gegen eine zunehmend authoritärer werdende Regierung. Das hat mich sehr bewegt, denn um die Betenden bildete sich ein großer, breiter Kreis zum Schutz vor der Polizei. Unsere Beschützer waren hauptsächlich die Atheisten."
Polizei ging brutal gegen Demonstranten vor
Schon ab dem zweiten Protesttag ging die Polizei massiv mit Tränengas gegen die Demonstranten vor, später auch mit Wasserwerfern und Gummigeschossen. Die Bilder gingen um die Welt. Etwa das der Frau im roten Kleid, die aus unmittelberer Nähe von einem Polizisten mit Tränengas eingenebelt wurde. Durch Aktionen wie diese verloren mehrere Demonstranten ihr Augenlicht. Andere wurden durch Tränengasgeschosse schwer verletzt. Die Polizeigewalt sei extrem übertrieben gewesen, sagt Eliacik:
"Der damalige Ministerpräsident und heutige Staatspräsident Erdogan hätte die Proteste eigentlich spätestens am dritten Tag stoppen können, wenn er den Demonstranten zugehört und die Gemüter besänftigt hätte. Aber Erdogan hat eine Machtprobe daraus gemacht."
Nun ging es nicht mehr nur um die Bäume und nicht nur in Istanbul. Abend für Abend forderten Tausende Menschen in verschiedenen Städten der Türkei den Rücktritt der Regierung.
Am 15. Juni wurde der Gezi-Park durch die Polizei gewaltsam geräumt – dieses Mal endgültig. Wochenlang war der Park abgesperrt niemand durfte ihn betreten. Landesweit wurden bis zum Ende der Proteste als 8.000 Verletzte gezählt. Von den sechs Todesopfern durch Polizeigewalt starb eines erst neun Monate nach Gezi: Der 15-Jährige Berkin Elvan war auf dem Weg von seinem Elternhaus zum Bäcker von einer Tränengagarante am Kopf getroffen worden und ins Koma gefallen.
Die Mitbegründerin der Taksim-Solidaritätsplattform Mücella Yapici blieb unversehrt, musste sich später aber vor Gericht wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung veantorten. Am Ende wurden sie und ihre Mitstreiter freigesprochen:
"Gezi hat uns gezeigt, dass eine angeblich gespaltene Gesellschaft West, Ost, Türken, Kurden etc... also dass das eigentlich gar nicht so ist. Dass die Menschen durchaus Hand in Hand, Schulter an Schulter gemeinsam kämpfen können, wenn ein gemeinsames Interesse besteht. Das ist die vielleicht wichtigste Erfahrung."
Doch was ist übrig von diesem Gemeinschaftsgefühl? Hat es Raum in der heutigen Türkei? Die Regierung, meint Ihsan Eliacik von den antikapitalisten Muslimen, habe mit aller Kraft versucht, diesen Geist von Gezi zu ersticken und den letzten Mut zu brechen.
"Aber wann immer etwas Wichtiges geschieht, kommen diese Menschen wieder zusammen und werden aktiv. So war es zum Beispiel auch beim Referendum um das Präsidialsystem, als die sich die ehemaligen Gezi-Aktivisten wieder in den Parks versammelten"
Demonstrationen aktuell verboten
Nur nicht im Gezi-Park. Dort dürfte es auch am fünften Jahrestag still bleiben. Durch den seit fast zwei Jahren geltenden Ausnahmezustand sind Demonstrationen verboten. Darüber werden in diesen Tagen im Park noch mehr Zivilpolizisten wachen als sonst.