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"Für viele Frauen war das eine Stärkung ihrer Position"

"Jetzt konnten Frauen entscheiden, dass sie verhüten und wie sie verhüten." Viele konservative Stimmen befürchteten mit der Markteinführung der Pille vor 50 Jahren Hemmungslosigkeit in der Sexualität, so die Historikerin und Autorin Eva-Maria Silies.

Eva-Maria Silies im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Tobias Armbrüster: Sie war eine der folgenreichsten Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts: die Anti-Baby-Pille. Heute vor genau 50 Jahren ist sie zum ersten Mal auf den Markt gekommen, und zwar in den USA. Die Markteinführung in Deutschland folgte dann ein Jahr später. Die Pille hatte großen Einfluss nicht nur auf das Sexualverhalten in vielen westlichen Ländern, sondern auch auf die Bevölkerungsentwicklung - wir sprechen vom Pillenknick – und natürlich auch auf die Lebensplanung von Frauen.
    Die Historikerin Eva-Maria Silies hat ein Buch geschrieben über die Pille als weibliche Generationserfahrung und ich kann jetzt mit ihr am Telefon sprechen. Schönen guten Morgen, Frau Silies.

    Eva-Maria Silies: Guten Morgen!

    Armbrüster: Wie kam denn die Pille in den 60er-Jahren bei den Frauen in der Bundesrepublik eigentlich an?

    Silies: Für die meisten Frauen war die Pille, als sie sie dann nehmen konnten, eine ganz große Erleichterung. Was nämlich dann einfach wegfiel, war die Angst vor ungeplanten Schwangerschaften, und Frauen konnten häufig erstmals in ihrem Leben überhaupt unbeschwerteren Sex haben, weil man diese Angst vor der Schwangerschaft nicht mehr die ganze Zeit im Hinterkopf haben musste.

    Armbrüster: War das denn den Frauen von Anfang an tatsächlich klar, dass sie damit ganz plötzlich auf einmal Kontrolle hatten über das schwanger werden, über das Kinder kriegen?

    Silies: Ganz am Anfang die ersten Jahre bestimmt nicht. Es war auch so, dass als die Pille auf den Markt kam, 1961 in der Bundesrepublik, der Pharmahersteller Schering das zunächst nicht richtig bekannt machte, sondern Informationen über dieses neue Verhütungsmittel gingen nur an eine ausgewählte Anzahl von Ärzten raus, die dann darüber bescheid wussten, die das aber auch nicht sofort an die Frauen weitergaben, und die Pille wurde in diesen ersten Jahren eher als Medikament gegen Menstruationsbeschwerden und gegen andere gynäkologische Fehlfunktionen verschrieben und weniger als Verhütungsmittel.

    Armbrüster: Hatten denn damals Ärzte oder Pharmaunternehmen Sorge, dass sich möglicherweise mit dieser Pille, mit der Einführung etwas Dramatisches verändern könnte?

    Silies: Ja. Man muss ja bedenken, dass die frühen 60er-Jahre in der Bundesrepublik eine Zeit waren, in der man öffentlich überhaupt nicht über Sexualität sprach, und dazu gehörte auch, dass man nicht über Verhütung sprach. Viele konservative Stimmen in der Gesellschaft befürchteten, dass diese Verfügbarkeit der Pille zu einer Hemmungslosigkeit in der Sexualität führen würde und insbesondere bei jungen und vielleicht unverheirateten Frauen. Deswegen gab es auch so große Widerstände gegen die Pille in den frühen Jahren.

    Armbrüster: Sie haben nun darüber ein Buch geschrieben, auch Ihre Dissertation gemacht. Wie stark hat denn die Pille damals das Sexualverhalten verändert?

    Silies: Das, was befürchtet wurde von vielen Kritikern, dass die Pille die Frauen hemmungslos machen würde und jetzt alle nur noch von einem Bett ins nächste steigen würden, das ist garantiert nicht eingetreten. Viele Frauen – und ich habe auch Interviews mit Frauen geführt – beschreiben, dass die Pille eine große Erleichterung war, dass sie diese aber häufig in festen Partnerschaften angewendet haben, dass sie also nicht jetzt wirklich einen Partner nach dem nächsten gehabt haben, sondern das für ihre ganz individuellen Partnerschaften eine große Revolution war, aber keine große Hemmungslosigkeit einsetzte, sondern tatsächlich Familienplanung und damit dann ja auch Lebensplanung möglich wurde auf eine zuverlässige Art und Weise, wie das vorher nicht der Fall war.

    Armbrüster: Aber, Frau Silies, wir sprechen ja auch in den 60er-Jahren von der sogenannten sexuellen Revolution. Hatte daran nicht die Pille einen entscheidenden Anteil?

    Silies: Ich würde sagen, wenn überhaupt, war sie ein kleiner Bruchbestandteil dieser Entwicklung, aber sie war weder Auslöser, noch einziger Faktor, denn es gab ja viele andere Entwicklungen in dieser Zeit, die mindestens genauso großen Einfluss hatten, also beispielsweise die großen Aufklärungskampagnen durch Oswald Kolle, oder auch der große Erfolg, den die Versandartikel von Beate Uhse hatten. Das waren alles kleine Faktoren, die zusammengenommen eine Veränderung im Sexualverhalten und im Wissen darüber ausgelöst haben. Ob man das jetzt als Revolution bezeichnen möchte? Ich bin da eher ein bisschen skeptisch, weil sich die tatsächlichen Veränderungen, bis sie sich durchschlugen, das dauerte bis in die 70er-Jahre.

    Armbrüster: Hat denn die Pille die Frauen in der Partnerschaft, in der Ehe zum Beispiel, stärker gemacht?

    Silies: Ich glaube, für viele Frauen kann man das tatsächlich sagen. Frauen waren ja mit der Pille nicht mehr vom Mann und dessen Verantwortungsübernahme bei der Verhütung abhängig, sondern jetzt konnten Frauen entscheiden, dass sie verhüten und wie sie verhüten, und für viele Frauen war das eine Stärkung ihrer Position. Und noch dazu konnten sie wirklich Sexualität jetzt frei genießen und hatten nicht mehr diese Angst vor der Schwangerschaft im Hinterkopf.

    Armbrüster: Wenn wir jetzt über die Sexualität sprechen – Sie haben darüber ja Interviews geführt mit Frauen -, hat sich da, wenn wir da mal so in den etwas intimeren Bereich gehen können, an der Gefühlswelt, an der Erlebniswelt bei der Sexualität durch die Pille etwas geändert?

    Silies: Ja. Viele Frauen beschreiben ja auch, wie sich ihr eigener Körper durch die Pille verändert hat. Das konnte positiv sein, dass sie tatsächlich freier handeln konnten in der Sexualität. Für viele Frauen hatte da die Pille aber auch negative Einflüsse. Das heißt, nach einer gewissen Zeit der Einnahme fühlten viele Frauen sich fremdgesteuert, glaubten, dass sie gar keine Kontrolle mehr über ihren eigenen Körper haben, dass da etwas Fremdes mit ihrem Körper passiert, dass also die Pille ein Fremdkörper ist, durch den sie die natürliche Funktion über ihren Körper verlieren.

    Armbrüster: Man kann ja auch sagen, dass mit der Pille die alleinige Verantwortung bei der Verhütung auf die Frauen abgewälzt wurde. Viele Männer setzen ja seit einigen Jahrzehnten sozusagen voraus, dass eine Frau die Pille nimmt. Empfinden Frauen das heute als Last, oder haben sie das damals vielleicht schon als Last empfunden?

    Silies: Das haben sie schon damals als Last empfunden. Spätestens mit der 68er-Bewegung und dann vor allem auch mit der Frauenbewegung wurde das ein ganz großer Kritikpunkt an der Pille auch, dass Männer ja fast voraussetzten, dass Frauen die Pille nahmen und sie dadurch von jeglicher Verantwortung entbunden waren. Das war häufig auch ein Grund, warum Frauen die Pille dann wieder abgesetzt haben und gesagt haben, auch Männer müssen Verantwortung übernehmen und wir müssen ein Verhütungsmittel finden, das wir partnerschaftlich anwenden können und wo nicht nur die Frauen in der Verantwortung sind.

    Armbrüster: Sie konzentrieren sich in Ihrem Buch vor allem auf die Frauen in der Bundesrepublik. Können Sie denn auch sagen, wie die Pille in der DDR ankam?

    Silies: In der DDR hat es zunächst einmal noch etwas länger gedauert, bis die Pille auf den Markt kam. Das war 1965. Und dann dauerte es auch noch ein paar Jahre, bis sie sich dort vollständig durchgesetzt hat. Insgesamt war die Pille in der DDR tatsächlich ein eher staatliches Verhütungsmittel, dadurch, dass sie auch vom Staat ausgegeben und finanziert wurde, und diente natürlich auch dazu, eine gezielte Familienplanung zu machen, mit der Frauen auch Familie und Beruf ermöglicht wurde.

    Armbrüster: Die Pille hatte ja immer auch Nebenwirkungen. Wann wurden die denn zum ersten Mal breit diskutiert?

    Silies: Eigentlich von Anfang an. Es war ja auch so, dass die ersten Pillen von der Hormondosierung unglaublich hoch waren. Das heißt, die Nebenwirkungen traten auch noch viel stärker auf, als das heute der Fall ist. Es gab auch von Anfang an immer wieder Berichte, die Pille könnte Krebs auslösen, die Pille könne zu Embolien führen, und es gab auch immer wieder Fälle, wo aus dem Ausland und aus dem Inland über solche Möglichkeiten berichtet wurde. Es wurde über Studien berichtet, wo angeblich der Nachweis erbracht wurde, oder dann wieder der Gegennachweis erbracht wurde. Diese Nebenwirkungen und auch mögliche Langzeitfolgen nach 20, 30 Jahren waren von Anfang an ein ganz großes Thema.

    Armbrüster: Wie ist das denn heute? Sehen Sie da einen Trend, einen ungebrochenen Trend bei der Nachfrage nach der Pille, oder könnte das möglicherweise, gerade wenn wir über die Last bei der Pille sprechen, oder auch über diese gesundheitlichen Nebenwirkungen, über die Sorgen, die damit verbunden werden, könnte diese Nachfrage auch abnehmen?

    Silies: Ich glaube, die Pille ist nach wie vor das am meisten genutzte Verhütungsmittel. Was sich vor allem im Vergleich zu den frühen 60er-Jahren verändert hat, ist sozusagen die Nutzerzielgruppe. In den 60er-Jahren waren es eher ältere Frauen, was daran lag, dass viele Ärzte die Pille an junge und unverheiratete Frauen nicht verschrieben, und heute ist die Pille häufig sozusagen ein Einstiegsverhütungsmittel, wo junge Mädchen mit verhüten, weil es einfach anzuwenden ist und relativ praktisch ist. Im weiteren Lebensverlauf steigen Frauen dann häufig auf andere Verhütungsmittel um, nicht zuletzt wegen der hormonellen Dosierung, die sie manchmal dann eben als Last empfinden.

    Armbrüster: Heute vor 50 Jahren ist in den USA die erste Anti-Baby-Pille auf den Markt gekommen. Wir haben darüber mit Eva-Maria Silies gesprochen. Sie hat ein Buch geschrieben über die Pille als weibliche Generationserfahrung. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Silies.

    Silies: Gerne.