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Fußball in Nahost (1)
Wie der Fußball die arabische Welt prägt

Die Fußball-WM in Katar ist das wichtigste Sportereignis in der Geschichte der arabischen Welt. Und in vielen arabischen Ländern ist Fußball eine der populärsten Sportarten. Die historischen Anfänge reichen bis in die Kolonialzeit zurück.

Von Ronny Blaschke | 16.10.2022
Kinder in spielen in den Straßen von Damaskus Fußball
Kinder in spielen in den Straßen von Damaskus Fußball (dpa / picture alliance / Zhang Naijie)
Wie so oft im Fußball liegen die Anfänge im britischen Empire. Im späten 19. Jahrhundert bringen Seeleute, Händler und Ölarbeiter ihre Lieblingssportart in den Nahen Osten und nach Nordafrika, nach Kairo, Beirut oder Teheran. Die Kolonialherren wollen sich in der Ferne fithalten und sich von ihrem Heimweh ablenken.
Doch der Fußball wird auch als politisches Mittel in den besetzten Gebieten eingesetzt, sagt der Politikwissenschaftler Jan Busse: „Nämlich zum einen ist es so, dass sie mit dem Fußball auch ihre Werte exportieren wollten. Also es ging um die Darstellung der eigenen kulturellen Überlegenheit im Rest der Welt. Und auf der anderen Seite war es eben auch so, dass Fußball ein Stück weit als Kontrollinstrument genutzt werden sollte, weil dadurch natürlich auch Werte wie Disziplin, Respekt und Gehorsam verbreitet werden sollten.

Kolonialherren wollen unter sich bleiben

Jan Busse hat gemeinsam mit dem Historiker René Wildangel ein Buch über den Fußball im Nahen Osten herausgebracht: „Das rebellische Spiel.“ Darin beschreiben sie auch die französischen Kolonien Nordafrikas im frühen 20. Jahrhundert. Dort, in Tunesien, Marokko oder Algerien, wollen die Kolonialherren beim Fußball lange unter sich bleiben. Von den Einheimischen dürfen, wenn überhaupt, nur Kollaborateure mitspielen.
Doch der Fußball wird schnell beliebter. Die französischen Besatzer geben dem Druck nach und gestatten bald auch den kolonisierten Bevölkerungen, eigene Vereine zu gründen. Allerdings müssen diese zunächst einen Franzosen an der Spitze haben.

Aus dem Klub-Vorstand ins Präsidentenamt

Allmählich regt sich Widerstand. Im Umfeld einiger Klubs vernetzen sich junge Männer für den Protest gegen die Kolonialherren. Ein Beispiel, sagt Jan Busse, sei Espérance Tunis, gegründet 1919: "Von Anfang an war dieser Verein in dem Geist gegründet, eigene Akzente zu setzen, eben unabhängig zu sein im Fußball. Was dann später letzten Endes sich auch übersetzen ließ in die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen. Und deswegen ist es auch kein Zufall, dass 1930 zeitweise Habib Bourguiba, der erste Präsident Tunesiens, der Tunesien in die Unabhängigkeit geführt hat, auch Mitglied des Vorstandes von Espérance Tunis gewesen ist zu diesem Zeitpunkt. In den anderen Fällen ist es sicherlich auch so, dass die lokale Bevölkerung wahrgenommen hat, dass Fußball letzten Endes ein wichtiges nationales Symbol ist. Ein Symbol der Unabhängigkeit, aber natürlich auch der Mobilisierung gegen die Kolonialmächte."
Ein anderes Beispiel für das wachsende Selbstbewusstsein im arabischen Fußball ist in Kairo Al Ahly. Der erste Klub von Ägyptern für Ägypter. Viele seiner Mitglieder beteiligen sich an der Revolution 1919, die später zur Unabhängigkeit führt. Noch heute, ein Jahrhundert später, spielt Ah Ahly in roten Trikots, in der Farbe der ägyptischen Flagge vor der Kolonisierung.
Die wohl sichtbarsten Spuren in den Unabhängigkeitsbewegungen hinterlässt der Fußball in Algerien. 1921 gründen dort junge Männer den ersten arabisch-muslimisch geprägten Verein, Mouloudia Algier. Ihr Wappen zeigt Halbmond und Stern, in Abgrenzung zu den Kolonialherren, berichtet der Islamwissenschaftler Jakob Krais: „Und zum anderen hat es aber auch einen gewissen Zusammenhang mit so einer islamischen Reformbewegung, die halt gesagt hat: Wir müssen uns so ein bisschen auf unsere Wurzeln, auf unsere Religion besinnen, und uns aber erstmal selber reformieren. Zum Beispiel der bekannteste algerische Reformtheologe in den Zwanziger, Dreißiger Jahren, Ben Badis hieß der, der hat gleich mehrere Fußballklubs selbst auch gegründet. Auch der Körper und Sportlichtkeit und Fitness und Kraft wurden zu religiösen Werten erhoben von islamischen Denkern. Um eben eine neue Generation heranzubilden, die sich dann gegen den Kolonialismus zur Wehr setzen könnte.“

„Väter des Volkes“ auf den Tribünen

Insgesamt steht Algerien mehr als 130 Jahre unter der Kontrolle Frankreichs. Bereits in den 1930er Jahren sollen auch algerische Spieler das Niveau der französischen Liga heben. Doch dann formiert sich Mitte der Fünfziger Jahre in Algerien die FLN, die „Nationale Befreiungsfront“.
Eines ihrer Instrumente ist Fußball, erzählt Jan Busse: „Es wurde 1958 dann tatsächlich eine eigene Nationalmannschaft der FLN gegründet. Und interessant in dem Zusammenhang ist, dass das tatsächlich keine Amateure aus der algerischen Provinz waren. Sondern es gab zahlreiche algerische Spieler, die in der ersten französischen Liga nicht nur gespielt haben, sondern wahnsinnig erfolgreich waren. Die haben dann wirklich über Nacht Hals über Kopf entschieden: Wir geben uns äußerst privilegiertes Leben in Frankreich auf. Dann wurde diese FLN-Mannschaft gegründet. Und interessant ist, dass die tatsächlich wahnsinnig erfolgreich war als ein solches Symbol der algerischen Unabhängigkeit.“
Nach der Unabhängigkeit prägt auch der Fußball die nationale Symbolik etlicher arabischer Staaten. Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser setzt sich für die Gründung des Afrika-Cups ein, auch als Stütze für seine Vision des überregionalen „Pan-Arabismus“. In anderen Ländern des Nahen Ostens inszenieren sich Staatschefs auf den Tribünen als „Väter des Volkes“, schreibt Jakob Krais in seinem Buch „Spielball der Scheichs“.

Algerische Gastarbeiter in Katar

Und er geht darin auch auf Liedtexte und Stadionnamen ein, die noch heute an die Unabhängigkeitsbewegungen erinnern: „Zum Beispiel einen Klub wie Mouloudia Olympique Constantine in Algerien, da ist es heute noch so, dass die Fans, die Ultras, die bezeichnen sich als die Kinder von Ben Badis. Also dieser Bezug auf diese Gründerfigur. Und haben auch zum Teil wirklich im Stadion so Banner, wo sie Bilder von diesem Theologen draufhaben.“
Algerien hat sich nicht für die WM 2022 qualifiziert. Aber im Gastgeberland Katar leben Tausende Menschen algerischer Herkunft. Es ist gut möglich, dass sie ihre nationalen Symbole in die Stadien tragen. Auch als Identifikation mit der arabischen Welt.