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Fußball
Die unterschätzte Gefahr der Kopfbälle

Dass Leistungssport nachhaltige körperliche Beeinträchtigungen zur Folge haben kann, ist nicht erst seit der Debatte um Hirnschäden bei American Football-Spielern bekannt. Neurowissenschaftler sagen nun: Auch Kopfbälle im Fußball können das Gehirn langfristig schädigen - vor allem bei jungen Spielern.

Von Heiko Oldörp | 22.04.2018
    Die beiden Spieler mit geschlossenen Augen und verzerrten Gesichtern beim Kopfball-Duell.
    Wenn der Ball mit bis zu 100 Stundenkilometer heranfliegt, wirkt bei einem Kopfball eine Wucht von rund 400 Kilogramm auf die Stirn. (Marijan Murat / dpa)
    Fußball-Training von Neun- und Zehnjährigen in Boston. James Casey schaut genau zu - und sobald jemand den Ball köpft, schreitet er ein.
    "No heading. One last time, ok?"
    Kopfbälle verboten. In Deutschland undenkbar, in den USA hingegen von ganz oben vorgegeben. Vor drei Jahren führte US Soccer als weltweit erster Fußballverband ein Kopfballverbot für Kinder unter elf Jahren ein. Wird dennoch geköpft, gibt es Freistoß für den Gegner an der Stelle des Regelverstoßes. Bei den Elf- bis 13-Jährigen ist die Anzahl der Kopfbälle im Training limitiert. Coach Casey hält das für richtig.
    "Ich denke, es ist eine gute Regelung. Die Kids können später immer noch das Kopfballspiel lernen, wenn sie etwas reifer sind und ihre Nacken- und Schultermuskulatur stärker ist."
    "Das jugendliche Gehirn ist unglaublich verletzlich"
    Inga Körte ist Professorin für Neurowissenschaften an der Harvard Universität in Boston. Seit 2012 untersucht sie Gehirne jugendlicher Fußballer auf den Einfluss von Kopfbällen. Körte bezeichnet den Beschluss des US-Verbandes als Schritt in die richtige Richtung, warnt allerdings auch:
    "Diese Grenze, die man gezogen hat, ist aus meiner Sicht eine sehr willkürliche gewählte Grenze. Denn dafür gibt es kein wissenschaftliches Fundament, das beweisen würde, dass Kopferschütterungen vor dem Alter von 14 schädlich - und danach nicht mehr sein sollten. Ganz im Gegenteil: Wir haben etliche Studien in der Zwischenzeit an der Hand, die zeigen, dass gerade das jugendliche, sich entwickelnde Gehirn, unglaublich verletzlich ist gegenüber Kopferschütterungen."
    Wenn der Ball mit bis zu 100 Stundenkilometer heranfliegt, wirkt bei einem Kopfball eine Wucht von rund 400 Kilogramm auf die Stirn. Zudem wird im Jugendfußball die von Ärzten empfohlene Gesundheits-Grenze von knapp 900 Kopfbällen pro Jahr oft deutlich überschritten. Das kann fatale Folgen haben, betont Körte.
    "Was unsere Studien zeigen - und nicht nur unsere, sondern die von anderen Arbeitsgruppen weltweit, ist, dass es möglicherweise einen negativen Effekt von den Kopfbällen gibt auf die Entwicklung des Gehirns, auf die Leistungsfähigkeit, auf das Denkvermögen des Gehirns - und das es sogar möglicherweise einen Zusammenhang gibt mit langfristiger Schädigung des Gehirns."
    DFB hält Verbot bisher für nicht nötig
    Der Deutsche Fußball-Bund hält trotz der Forschungsergebnisse Verbote wie in den USA bisher offenbar nicht für nötig. Das zeigt die Haltung von Tim Meyer. Er gehört seit 2001 zum Ärzteteam der Nationalmannschaft - und hält nichts von einem Kopfballverbot für Nachwuchsfußballer - nicht einmal für die Kleinsten.
    "Es gibt ja zum Beispiel auch die Möglichkeit einer besseren Kopfballschulung, um die Nackenmuskulatur zu stärken oder vielleicht die Kopfballtechnik besser auszuprägen. Man könnte mit leichteren Bällen arbeiten. Also vieles ist grundsätzlich denkbar, um vorzubeugen - ohne dass es gleich das ganz große Schwert des Verbots sein muss."
    Sportarzt Helge Riepenhof hat in Hamburg mit 15-jährigen Fußballern einen Test gemacht, sie vor einer Einheit mit 40 Kopfbällen untersucht - und danach. Ihre Nackenmuskulatur ist bereits weitaus stärker als die von Jüngeren. Dennoch sind die Einflüsse der Kopfbälle auf das Gehirn deutlich zu erkennen, sagt Riepenhof, als er sich die ausgewerteten Daten auf seinem Computer anschaut.
    "Hier, in diesem Bereich, sieht man, dass der Proband alles schön scharf stellen kann. Die Pupille kann ganz klein und ganz groß gemacht werden. Und nach den Kopfbällen sieht man, dass er das nicht mehr kann. Er kann halt in einem viel, viel kleineren Bereich scharf sehen. Und der andere Bereich wird gar nicht mehr von der Pupille angesteuert. Und das wiederum lässt zurückschließen, dass die Motorik sicher deutlich beeinträchtigt ist und dadurch die Gefahr, sich andere Verletzungen zuzuziehen, wie zum Beispiel eine Kreuzbandruptur, deutlich erhöht ist."
    Neurowissenschaftler Stern: "Fußball führt zu CTE"
    In den USA haben Wissenschaftler bereits nachgewiesen, dass es einem Zusammenhang zwischen Gehirnerschütterungen und der irreparablen Nervenkrankheit CTE gibt. Ann McKee von der Boston University hat im Vorjahr die Gehirne von 111 ehemaligen Profi-Spielern im American Football untersucht - und bei 110 von ihnen CTE entdeckt. Doch McKee ist auch schon bei Ex-Fußballern fündig geworden. Der Bekannteste: Hilderaldo Bellini, 1958 war er Kapitän der brasilianischen Mannschaft, die in Schweden Weltmeister wurde.
    "Dem Gehirn ist das egal, welchen Sport man ausübt. Beim Fußball wird das Gehirn durch viele Kopfbälle und Zusammenstöße belastet. Auch da besteht die Gefahr von CTE."
    Während McKee als Neuropathologin die Krankheit bei Toten nachweist, will der anerkannte Neurowissenschaftler Bob Stern an der Boston University CTE bald am lebenden Menschen feststellen können. Die bisherigen Erkenntnisse seiner Forschung lauten:
    "Nicht nur Gehirnerschütterungen können schon zu strukturellen Veränderungen des Gehirns führen, sondern auch Kopfbälle. Und wenn das wirklich der Fall ist, könnte dies erst der Anfang sein, dass wir sehen: Fußball führt zu CTE."