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Fußball-WM 2014
Krieg hinterm Maracanã

Sechs Monate ist es her, dass in Brasilien die Fußball-WM angepfiffen wurde. Das sportliche Ergebnis ist bekannt: Deutschland wurde Weltmeister. Aber was ist den Brasilianern geblieben - zum Bespiel den Menschen im Armenviertel hinter dem Maracanã?

Von Carsten Upadek | 13.12.2014
    Einwohner des Stadtteils Mangueira leben im Dreck.
    Die Einwohner des Stadtteils Mangueira leben im Dreck. (Deutschlandradio - Carsten Upadek)
    Die Zeiten sind komplizierter geworden in der Mangueira. Das Armenviertel erhebt sich direkt hinter dem Maracanã-Stadion auf einem Hügel. Etwa 25.000 Menschen leben hier, manche unter ärmsten Bedingungen. Offiziell herrscht der Staat - seit November 2011 ist eine Einheit der so genannten Befriedungspolizei stationiert. Inoffiziell aber herrscht das Rote Kommando - das größte der organisierten Drogenkartelle. Noch zur WM war die Lage stabil, doch im September eskalierte der Streit innerhalb des roten Kommandos, wer den Hügel kontrolliert. Zwei weitere Kartelle mischten sich ein: die Mangueira wurde zum Kriegsgebiet.
    Carlos Alexandre dos Santos, genannt Paulista, ist kein Drogendealer. Er ist Fotograf und das Auge der Mangueira. Trotzdem musste er fliehen. "Typen aus anderen Vierteln wollen das Gebiet besetzen. Sie haben Zettel an meinem Haus hinterlassen, dass sie kommen würden, mich zu holen, wenn ich schlafe. Dass sie mich zusammen mit meiner Kamera beerdigen würden."
    In der Hauptstraße der Mangueira ist es gerade ruhig, die Stimmung aber wirkt angespannt. Hier ist nicht zu übersehen, wer das Sagen hat: Jede Tür und jede Wand ist mit "CV" besprüht: Comando Vermelho - rotes Kommando. Am Rand des Viertels stehen zwei Bürohaus-Ruinen mit fünf bzw. 14 Etagen. Hier war der Deutschlandfunk schon einmal während der WM und besuchte Familien, die in Holzverschlägen leben ohne fließendes Wasser, zwischen Ratten und Müll.
    Graffiti mit der Aufschrift "CV" Comando Vermelho in Mangueira
    Graffiti mit der Aufschrift "CV" Comando Vermelho in Mangueira (Deutschlandradio - Carsten Upadek)



    Das Maracanã ist aufgehübscht - die Menschen abgeschottet
    An diesem Tag stehen an der Eingangsrampe Mitarbeiter der staatlichen Familienklinik "Dona Zica". Sie erklären den Müttern, das Wasser abzukochen und die Kinder nicht im Dreck spielen zu lassen. Für mehr als Aufklärung fehlt das Geld. Gesundheitsarbeiterin Rejanne Vieira sieht hier keine Perspektive: "Es war verabredet, dass die Leute hier rauskommen in eine Wohnsiedlung. Aber es ist nichts passiert. Gegenüber dem Maracanã haben sie alles hübsch angemalt, aber die Menschen hier abgeschottet."
    Maria Lúcia ist eine von 600 Bewohnern. Ihre Kinder haben Pusteln auf der Haut und Magen-Darm-Krankheiten. Maria Lúcia führt zu ihrem Verschlag und zeigt auf Rohröffnungen in den Wänden. Viele Bewohner nutzen sie, um Abfall und Fäkalien zu entsorgen. Die Brühe läuft an den Außenwänden entlang, wird vom Wind zerstäubt und verbreitet Krankheiten. Maria Lúcias Lungen sind von Tuberkulose befallen, einer lebensgefährlichen Infektion.
    "Vor der WM kam einer nach dem anderen und hat versprochen, uns zu helfen, uns hier rauszuholen. Seit dem Ende der WM ist keiner mehr aufgetaucht. Die haben Millionen verdient und wir können uns weiterhin nicht einmal ein Kilo Reis leisten!"
    Ein Junge reicht einem anderen Kind eine Trinkflasche.
    Die Kinder in der Mangueira leben unter kritischen Hygienebedingungen. (Deutschlandradio - Carsten Upadek)
    Offiziell hat die WM Brasilien knapp acht Milliarden Euro gekostet, davon allein 2,5 Milliarden für die zwölf WM-Stadien. Völlig überteuert, findet Christopher Gaffney. Der in Rio lebende US-Geograph hat sich lange mit Auswirkungen der WM auf Brasilien beschäftigt. Nun habe Brasilien sieben der zehn teuersten Stadien weltweit, viele weiße Elefanten und die weltweit teuersten Ticketpreise in Bezug auf das Pro-Kopf-Einkommen: "Ich war letzte Woche bei einem Spitzenspiel im Maracanã. Aber das Stadion war größtenteils leer - gerade 18.000 Leute waren da. Die Stadien repräsentieren heute die Interessen der Elite. Die ganzen historischen Stadien wurden abgerissen und durch teure Shopping-Center ersetzt, um sie dann privaten Unternehmen zu übergeben, die damit Gewinn machen und die Eliten bereichern. Das beschämt mich!"
    Der Gewinner ist die FIFA
    Für Gaffney heißt der Sieger der WM: FIFA. Der Fußball-Weltverband hat laut Schweizer NGO "Solidar" in Brasilien etwa 2,4 Milliarden Euro Gewinn gemacht. "Für die FIFA war es wunderbar! Die größte WM aller Zeiten! Die Feste waren fantastisch, die Stadien waren hübsch. Die Infrastruktur funktionierte mehr oder weniger. Deshalb habe ich auch den Eindruck, die Brasilianer denken, die WM sei ein großer Sieg in Bezug auf die Organisation. Aus meiner Sicht haben sie aber ziemlich übel verloren."
    Denn die Zukunft bringe Brasilien gravierende urbane Probleme. Dafür hätten die Milliardeninvestitionen sinnvoller verwendet werden können. Das sieht der Ökonom Mauro Rochlin ähnlich. Aber immerhin auf die Wirtschaft habe die WM unterm Strich positive Auswirkungen gehabt, sagt er. "In der Summe haben sich negative Effekte wie Sonderfeiertage weniger stark ausgewirkt, als der große positive Impuls, die Konstruktion der WM-Infrastruktur."
    Trotz dieses Impulses erwartet Brasilien für 2014 nur ein Wachstum von mageren 0,5 Prozent. Angekurbelt werden soll die Wirtschaft 2015 durch ein Investitionsprogramm. Auf dessen Prioritätenliste stehen auch Sozialwohnungen für die 600 Bewohner der Bürohaus-Ruinen in der Mangueira. Doch dafür müsste erst einmal Friede herrschen.
    Fast täglich dringen Mitglieder eines verfeindeten Kartells ein, um Territorium zu erobern. Es gibt Schießereien. Die Polizei mischt sich nicht ein, sie hat 2014 in Rio de Janeiro genug Tote zu beklagen: 107 bisher. Die Gesamtzahl der Mordopfer dürfte dieses Jahr 5000 übersteigen. Eines von ihnen ist Caio Martins Ferreira. Er war ein Freund von Fotograf Paulista und starb im Oktober im Krieg um Mangueira: "Er war unschuldig, hatte nichts damit zu tun. Er hat sich nie mit Drogenhandel und anderen Verbrechen eingelassen. Caio hatte einen anderen Traum - er wollte Profi-Fußballer werden. Er wollte so sein wie Neymar."
    Caio Martins Ferreira starb beim Fußballtraining. Er war 17 Jahre alt und hinterlässt eine vier Monate alte Tochter.