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Fussball-WM
Glanz und Elend liegen nah beieinander

Im Estádio do Maracanã findet das Finale der Fußball-WM statt, es wurde in den vergangenen Monaten für Hunderte Millionen Euro renoviert. Keinen Kilometer hinter dem Stadion liegt eine andere Welt: Mangueira, ein Armenviertel mit 40.000 Einwohnern.

Von Carsten Upadek | 05.07.2014
    In Sichtweite der Favela Mangueira: Rios Maracana-Stadion
    In Sichtweite der Favela Mangueira: Rios Maracanã-Stadion (Carsten Upadek)
    Deutschlandsieg im Maracanã. Keinen Kilometer hinter dem Stadion liegt das Armenviertel Mangueira. Auch da waren Bildschirme aufgebaut, aber eigentlich eher schon als Vorbereitung auf das Brasilien-Spiel. Deutschland interessiert nur als nächster Spielgegner. Überhaupt liegt das Maracanã zwar in Sichtweite, aber trotzdem ganz weit weg: Viele Zugangsstraßen waren fürs Spiel abgesperrt und haben die Bewohner daran erinnert, dass die WM für Wohlhabende und Touristen ist.
    Am Ausgang der Metrostation Maracanã steht die erste von vielen Ketten aus Polizisten, um Tickets zu kontrollieren. Mehr als 3.000 Sicherheitskräfte sorgen dafür, dass keine ungebetenen Gäste in die Nähe des WM-Stadions kommen. Eine Frau möchte durch. Sie sagt, sie sei auf der Rückseite der Metrostration verabredet und müsse diesen Weg nehmen, um dorthin zu gelangen. Aber sie wird nicht durchgelassen. Ausgänge hat die Metro nur auf dieser Seite - auf der anderen erhebt sich der mächtige Hügel Mangueira, ein Armeviertel mit 40.000 Einwohnern. Oben auf der kurvigen Zufahrtsstraße steht die Sozialarbeiterin Papiõn Cristiane Santos:
    "Ich fühle mich isoliert! Meine Mutter wohnt da im Nachbarviertel São Cristóvão und ich kann nicht hin, obwohl das mein Recht ist!"
    Sie schaut hinunter auf die Gleise von Metro und Bahn, die das Maracanã und die Favela trennen. Der einzige Fußgängerüberweg ist den WM-VIP-Gästen vorbehalten. Papiõn Cristiane Santos sagt, die Regierung versuche, die Mangueira zu verstecken. Der Grund sei just das umgerechnet fast 500 Millionen Euro teure Stadion:
    "Auf der einen Seite sieht man die investierten Millionen, für die andere Seite ist nicht ein Pfennig übrig."
    Überall rottet Müll vor sich hin
    Am Fuß de Hügels befindet sich die bekannteste Einrichtung von Mangueira, die Samba-Schule. Nicht weit entfernt stehen zwei Gebäude-Ruinen mit 14 beziehungsweise fünf Etagen. In dem Gebäudekomplex war früher das Institut für Geografie und Statistik untergebracht, deshalb wird er nach der Abkürzung bis heute IBGE genannt. Zehn Jahre stand er leer, dann begannen Menschen ohne Obdach das IBGE zu besetzen. Heute leben hier etwa 250 Familien in Holzverschlägen. Der Strom ist illegal abgezapft, ein Abwassersystem existiert nicht, Müll rottet in jeder Nische und im Innenhof. Pferdekot und Rattenurin mischen sich mit Regenwasser und verbreiten Infektionen. Nachts könne man nicht auftreten, so viele Ratten gebe es, sagt Bewohnerin Renata Rodrigues:
    "Ich denke, verdammt, da drüben ist das Maracanã, hier in Mangueira dieses Gelände mit Bedürftigen und niemand interessiert sich dafür."
    Zu den wenigen, die sich interessieren gehört eine kirchliche Organisation. Die Missionare um Wagner José dos Santos versorgen die Kinder täglich mit einer Mahlzeit. Etwa 200 Kinder leben hier, nicht mal zur Schule gehen alle:
    "Die Kinder haben nichts. Morgens wachen sie auf ohne Frühstück, ohne Eltern, die diese furchtbare Welt für sie einordnen. So wachsen die Kinder heran und reproduzieren diese Welt - gewalttätig. Ich weiß das, ich habe selbst auf der Straße gelebt und ordentliche Familien gesehen. Die haben mich wütend gemacht, weil sie hatten, was ich nicht hatte."
    Zum Viertelfinale hat Wagner einen Fernseher aufgebaut. Es läuft gerade Deutschland-Frankreich. Aber das interessiert niemanden: Wie überall im Viertel zählt nur das Spiel von Brasilien später. Vor der Tür sitzt die 22-jährige Leilane und stillt ihre kleine Tochter Kamily. Sie ist erst vor wenigen Wochen geboren: mitten auf der Straße. Das nahegelegene Krankenhaus habe sie nicht aufgenommen, weil es keinen Notfall sah, berichtet Seelsorgerin Eliane Felix:
    "Das Gesundheitssystem in unserem Land ist prekär. Vor Kliniken sehen Sie die Leute schlafen, sie werden schlecht behandelt. Ein Kind auf der Straße zu bekommen wird dann schon beinah gewöhnlich."
    Angst vor weiteren Säuberungen nach der WM
    Kamily und Mutter Leilane sind wohlauf. Allerdings hat ein geplatztes Abwasserrohr, das den Hügel entlangläuft in der Nacht zuvor die erste Etage mit Abwasser überspült. Es riecht nach Fäkalien. Kinder rennen zum Teil barfuß den Korridor entlang. Carlos Alexandre dos Santos, genannt Paulista, macht Videos davon. Er ist Auge und Ohr für die Nachbarschaftsvereinigung der Mangueira.
    "Ich halte das für unmenschlich. Aber so ist die Realität. Wenn die Leute irgendwo anders hin könnten, glaubst Du, sie würde diese Erniedrigung hier ertragen?"
    Die Straße runter stehen neugebaute Siedlungen mit Sozialwohnungen. Die Apartments haben zwei Zimmer, Küche, Bad. Die Bewohner beschweren sich zwar über die vergleichsweise hohen Nebenkosten, scheinen aber sonst ziemlich zufrieden. Sie alle stammen aus Metro-Mangueira, einem Teil des Viertels hinter den Gleisen nahe am Maracanã. 700 Familien lebten einst hier. Dann beschlossen die WM-Organisatoren, aus der Fläche einen Parkplatz für das Stadion zu machen. 2010 begannen die Umsiedlungen. Aber nicht alle Bewohner wollten weg. Im Januar gab es gewalttätige Proteste gegen die Räumungen. Ein Teil der Gebäude liegt in Schutt, Cracksüchtige hausen zwischen den Trümmerhaufen. In einem der Gebäude, die noch stehen, wohnt Paulista:
    "Die haben aufgehört, weil die Bewohner Widerstand geleistet haben und natürlich wegen der WM; da soll alles ordentlich laufen. Aber nach der WM geht die Säuberung weiter. Das ist unsere Angst."
    Statt eines Parkplatzes hat die Stadt Rio de Janeiro angekündigt, aus dem Gelände einen Park mit 400 Bäumen, knapp 100 Geschäften und einer Fahrradstrecke zu machen. Doch die Bewohner sind skeptisch: Aus den besetzten IGBE-Gebäuden die Straße hoch sollte schließlich auch schon vor Jahren ein Kulturzentrum werden. Getan hat sich nichts. Am Eingang des Geländes steht Sozialarbeiterin Papiõn Cristiane Santos. Es sei absurd, sagt sie: Es gebe Menschen, die wollten nicht weg und würden umgesiedelt. Und es gebe die Menschen hier, die sich selbst überlassen würden. Der Grund:
    "Die Sozialstelle sagt, hier gibt es keine Arbeiter, nur Landstreicher. Das ist eine Diskriminierung, wer umgesiedelt wird und wer nicht."
    Die Kinder strömen in den Raum der Kirchenorganisation. Bald beginnt das Spiel von Brasilien. Wichtiger aber noch: Wagner und Eliane haben Canjica zubereitet - ein süßer Brei aus geraspeltem Mais, Zucker und Milch. Das scheint vielen Kindern gerade wichtiger als die WM zu sein.