
Das Halbfinale war gerade abgepfiffen, schon versammelten sich in ganz Argentinien Menschen auf der Straße zum Feiern. In einem Stadtteil von Buenos Aires hatten drei getunte Kleinwagen eine Kreuzung lahmgelegt und bespielten mit Fußballpartyhits Müllsammlerinnen und Müllsammler, rausgeputztes Nachtklub-Publikum und verschwitzte Rentner.
Euphorie und Enthusiasmus kennen keine Grenzen – nicht nur der argentinischen Fans im Stadion, sondern auch in der Heimat bei ihrer ersten Sommer-WM. Überall sieht man Fahnen, Trikots und Werbetafeln mit Messi und der Nationalmannschaft. Das Original-Shirt des Superstars ist laut Adidas sogar weltweit ausverkauft.
"Es ist etwas Besonderes, weil die WM etwas Besonderes ist. Aber vor zehn Jahren oder in zehn Jahren wäre es genauso gewesen", so Rentner Eduardo beschwichtigend, der natürlich die Titelgewinne 1978 und vor allem '86 mit Diego Maradona miterlebt hat. Es ist also nur der normale Wahnsinn – und der reicht aus, denn Argentinien gilt als vielleicht fußballverrückteste Nation mit einer weltweit einzigartigen und vielfach bewunderten Fankultur.
Identifikation mit Nationalmannschaft besonders groß
Aber die Identifikation mit dieser Truppe scheint besonders herzlich. Nicht nur als Ablenkung, weil gerade mal wieder die Wirtschaft schwächelt und die galoppierende Inflation vielen Menschen existenzielle Sorgen bereitet. Vielleicht auch, weil der WM-Kader vielerorts im Land beheimatet ist: Shooting-Star Julián Álvarez stammt aus einem 2500-Seelen-Dorf in der Provinz Córdoba, Marcos Acuña aus Nordpatagonien und Alexis Mac Allister aus einer gutsituierten Fußballerfamilie in der gähnenden Pampa. Andere, wie der Crush vieler Argentinier:innen Rodrigo de Paul oder Spaßvogel "Papu" Gómez, kommen aus der grauen Peripherie von Buenos Aires.
"Man merkt einfach, dass es alles coole Jungs sind. Und wenn sie verlieren, geben sie nicht auf", findet die zwölfjährige Delfina, die mit einer Freundin in Messi-Trikots und blau-weiß geschminkt im Park sitzt. Als Lionel Messi 2006 seine erste WM spielte, waren viele seiner Mitspieler jünger als die beiden Mädchen. Sie spielen also nicht nur für ihr Land, sondern auch mit dem Idol ihrer eigenen Kindheit. Eine zusätzliche Motivation, findet auch Mariano im Maradona-Shirt: "Die ganze Mannschaft spielt sehr gut. Die Abwehr ist stabil, im Mittelfeld läuft es…"
Trainer Lionel Scaloni als große Überraschung
Die richtige Mischung gefunden hat Trainer Lionel Scaloni, der mit Messi den Vornamen und den Heimatverein Newell's Old Boys teilt, und irgendwie aus dem Nichts kam. Niemand hatte den emsigen Fußballarbeiter trotz einer langen Karriere - auch in der Nationalmannschaft - auf dem Radar. Als Co-Trainer an seiner Seite arbeiten das frühere Abwehrbollwerk Walter Samuel und Ex-Kreativspieler Pablito Aimar – seinerseits Kindheitsidol von Lionel Messi selbst.
Die restlichen Prozent generiert man über eine gehörige Portion Selbstbewusstsein. Auch das ist –wie der Fußball – Teil der nationalen Identität. Die Argentinier sind eine stolze Nation, die besonders mit europäischen Kulturen auf Augenhöhe gemessen werden will. Gern kocht man dabei kritische Kommentare hoch, so wie zuletzt vor dem Viertelfinale gegen die Niederlande, wo Messi dann gleich diverse Rechnungen mit Trainer van Gaal und Stürmer Wout Weghorst beglichen hat.
"Mbappé hat gesagt, dass die europäischen Mannschaften auf höherem Niveau spielen als in Südamerika", sagt Mariano. "Deshalb müssen wir ganz klar gegen Frankreich gewinnen. Das ist aber keine neue Rivalität, denn wir sind sowieso ganz klar besser."
In Argentinien wird nicht verfrüht gefeiert
Selbstbewusstsein an der Schwelle zur Überheblichkeit. Aber verfrüht gefeiert wird in Argentinien dafür selten. Während in Brasilien schon vor dem Viertelfinale abgestimmt wurde, wo der sechste Weltmeister-Stern auf dem Trikot platziert werden sollte und die Fans auf der Tribüne mit goldenen Pokalen feierten, gilt man in argentinischen Stadien bereits als Unglücksbringer, wenn man ein Tor bejubelt, bevor der Ball im Netz zappelt.
Beim Anstoß am Sonntagmittag wenn dann das ganze Land lahmgelegt wird, heißt es also Füße stillhalten. Und Anfeuern – denn Fan-Weltmeister sind die Argentinier jetzt schon.