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Fußball-WM in Brasilien
Die Masse gegen den Massensport

Egal ob Brasilien die Weltmeisterschaft gewinnt oder verliert, die Brasilianer haben sie bereits gewonnen, sagt der Schriftsteller Luiz Ruffato im Deutschlandfunk. In den Protesten gegen die Spiele hat sich ein neues Bewusstsein der Bevölkerung gezeigt.

Luiz Ruffato im Gespräch mit Peter B. Schumann | 02.06.2014
    Eine ältere Frau hebt ein Schild in die Höhe, auf dem steht "Tourists, don't come to the worldcup danger country" - "Touristen, kommt nicht ins WM-Gefahren-Land"
    Demonstranten in Sao Paulo warnen Touristen davor, nach Brasilien zu kommen (picture alliance / dpa / Antonio Lacerda)
    Peter B. Schumann: Eigentlich teilt Luiz Ruffato die "größte Leidenschaft der Brasilianer, den Fußball" - wie er in seiner Anthologie von Fußballgeschichten "Der schwarze Sohn Gottes"schreibt. Doch bei dieser Weltmeisterschaft wird er zu den vielen gehören, die keines der zwölf Stadien aufsuchen werden. Die Eintrittspreise sind selbst ihm, einem erfolgreichen Schriftsteller, einfach zu teuer. Und außerdem glaubt er:
    Luiz Ruffato: Das beste Spiel dürfte jenseits der Stadien stattfinden. Und es wird interessanter sein, dieses zu verfolgen.
    Schumann: Auch werden sich erneut die sozialen Konflikte manifestieren, die die brasilianische Regierung seit letztem Jahr in Atem halten. Doch hinzu kommt der Zorn vieler Brasilianer über die zahllosen gebrochenen Versprechungen und die Unfähigkeit der Verantwortlichen, die Stadien und die dafür nötige Infrastruktur rechtzeitig fertigzustellen.
    Ruffato: Das ist nichts Neues in Brasilien, denn der Großteil der Neubauten entsteht innerhalb eines zutiefst korrupten Systems. Viele meinten wohl auch, diese Weltmeisterschaft könne mit dem bei uns sehr verbreiteten jeitinho, mit Tricks und Improvisation statt mit Planung gemanagt werden. Dann wurde die Verschwendung von Milliardenbeträgen für den Neubau von Stadien immer deutlicher, die nach den 40 Tagen der WM niemals mehr gebraucht werden. Und dieses Geld fehlt für die Beseitigung der katastrophalen Zustände im Gesundheits- und Bildungswesen. Das hat viele Brasilianer empört.
    Schumann: Luiz Ruffato verweist gern darauf, dass die Entscheidung für das Projekt bereits 2007 getroffen wurde, als Brasilien als ein neuer "Global Player" erschien.
    Ruffato: Damals gab es so etwas wie Größenwahn. Brasilien galt als siebtgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, alles schien leicht zu schaffen, auch so eine Fußball-Weltmeisterschaft. Heute ist die Situation völlig anders: Die Wirtschaft ist bei weitem nicht mehr so stark und dynamisch, und das spüren alle. Der Fußball wurde bei uns stets zur Ablenkung von Problemen benutzt, machte die Menschen noch lethargischer, als sie normalerweise schon sind. Ich glaube, dass dies bei der Entscheidung für die Weltmeisterschaft eine gewisse Rolle gespielt hat. Doch so sind die Dinge jetzt nicht mehr.
    Schumann: Die Situation hat sich jedoch nicht nur im ökonomischen Bereich zugespitzt, sondern auch in der Politik. Präsidentin Rousseff hat zwar in ihrer Regierungsmannschaft erfolgreich die Korruption bekämpft, aber der Sumpf dampft vielerorts weiter. Luiz Ruffato sieht darin nicht nur ein politisches, sondern auch ein kulturelles Problem.
    Ruffato: Und das ist viel schlimmer. Die Korruption ist Bestandteil des Alltags, und die Brasilianer sehen großzügig darüber hinweg. Wenn es nur ein politisches Problem wäre, dann ließe sich das leicht beseitigen. Aber die Brasilianer haben sich seit Jahrhunderten daran gewöhnt. Und die Korruption wird begünstigt durch eine weitverbreitete Straflosigkeit in unserem Justizwesen. Viele Leute streben deshalb in die Politik, aber nicht, um Probleme zu lösen, sondern um zu stehlen.
    Schumann: Trotz des immensen Konfliktpotenzials, das die Fußball-Weltmeisterschaft ans Tageslicht gefördert hat, zeigt sich im Widerstand der brasilianischen Bevölkerung ein neues Bürgerbewusstsein. Ist das vielleicht das erfreulichste Ergebnis dieses Mega-Ereignisses?
    Ruffato: Zweifellos. Egal ob die brasilianische Mannschaft die Weltmeisterschaft gewinnt oder verliert, die Brasilianer haben sie bereits gewonnen. Das Bewusstsein, das sich in der Empörung auf den Straßen manifestiert, drückt zugleich ein neues Verständnis von diesem Land aus und räumt mit vielen ausländischen Vorurteilen über Brasilien auf.