Gerwald Herter: Es ist neun Jahre her, dass Magnus Gäfgen den elfjährigen Jungen Jakob von Metzler entführt und ermordet hatte. Jetzt soll Gäfgen eine Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro erhalten. Die Polizei hatte ihm im Verhör Folter angedroht, um in Erfahrung zu bringen, wohin er Jakob von Metzler gebracht hatte. Das Land Hessen wird Gäfgen kein Schmerzensgeld, sondern eine Entschädigung zahlen müssen. Von den 3.000 Euro dürfte ihm wenig bleiben, weil er auch einen Großteil der Verfahrenskosten tragen muss. Dennoch regt dieses Urteil viele Menschen auf, geht es doch um eine Entschädigung für einen Kindsmörder. Der Jurist und Chefredakteur des Deutschlandfunks, Stephan Detjen, ist jetzt bei mir im Studio.
-Stephan Detjen, ist dieses Urteil ein Lehrstück deutscher Rechtsprechung?
Stephan Detjen: Ja, Herr Herter, der ganze Fall ist natürlich ein Lehrstück für unser Rechtsbewusstsein insgesamt. Er fordert unser Verständnis des Rechts heraus, von Anfang an – diese Folterandrohung durch den damaligen Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner war ja wie die Realisierung eines Lehrstücks aus den Lehrbüchern der Rechtsphilosophie. Das wurde dort seit vielen Jahrzehnten unter dem Begriff Ticking Bomb Scenario verhandelt – also: Was darf der Einzelne, was darf der Staat tun, wenn es darum geht, höchste Rechtsgüter zu schützen? Hier eben der Fall, wo ein höchstes – nach unserem Grundgesetz das höchste Rechtsgut der Grundrechteordnung, die Menschenwürde – verletzt wurde, um ein anderes höchstes Rechtsgut, das Leben, zu schützen. Das ist ein Dilemma. Im Fall Gäfgen wurde diese Frage jetzt seit zehn Jahren ja bis zur letzten Konsequenz dann durchdekliniert. Also, es wurde festgestellt von deutschen Gerichten, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, es ist hier durch den Staat, durch die Polizei, rechtswidrig gehandelt worden. Gäfgen wurde damit primär natürlich immer noch Täter, aber eben auch zum Opfer. Das ist schwer zu verstehen, das fordert uns heraus, aber das Recht zwingt eben dazu und ermöglicht das aber auch, das fein säuberlich zu differenzieren, bis hin zu den Konsequenzen.
Herter: Das heißt, dieses Urteil ist richtig?
Detjen: Ich glaube, es ist im Grundsatz richtig, indem es noch mal unterstreicht: Hier wurde rechtswidrig gehandelt, das hat auch Konsequenzen, möglicherweise auch zugunsten des Täters. Ob es in seiner letzten Ausführung, also auch in der Zubilligung einer Entschädigungssumme von doch immerhin 3.000 Euro richtig ist und Bestand haben wird, da bin ich mir noch nicht so ganz sicher. Der vorsitzende Richter hat in seiner Urteilsbegründung gestern nicht nur gesagt, dass die Frankfurter Polizei rechtswidrig gehandelt habe, sondern er hat das Verhalten in seiner mündlichen Urteilsbegründung zunächst verwerflich genannt – das ist ein besonders drastisches Urteil, das nicht ganz nach meiner Einschätzung übereinstimmt mit dem früheren Urteil der Großen Strafkammer des Landgerichtes Frankfurt über das Verhalten des Polizeipräsidenten Daschner, der ja auch angeklagt war. Im Urteil damals, 2004, wurde er zu einer relativ milden Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Und das Gericht hat ihm damals ganz ausdrücklich eine ehrenwerte, verantwortungsbewusste Gesinnung attestiert. Da gibt es möglicherweise einen Widerspruch in den Wertungen. Und da muss man abwarten, wie das Urteil schriftlich begründet wird. Und es gibt ja auch noch die Möglichkeit, sowohl für den bekanntermaßen streitlustigen Gäfgen, aber auch für die Staatsanwaltschaft, Berufung gegen dieses Urteil einzulegen.
Herter: Lassen Sie uns noch mal zurückblicken auf die juristische Diskussion, die es da gegeben hat. Da gab es einen designierten Verfassungsrichter, der dann doch nicht Verfassungsrichter wurde, weil er sich eben einfach in diese Diskussion um Foltererlaubnis – wann kann das zulässig sein – geäußert hat. Um was ging es da?
Detjen: Man muss ja sehen, dieser Fall Gäfgen und der Fall Daschner, der es ja auch war, fiel in eine Zeit, da waren die Terroranschläge von New York gerade mal fast auf den Tag genau ein Jahr her. Da hat die amerikanische Armee im Afghanistankrieg mit präsidialer Rückendeckung gefoltert. Da wurde auch in Deutschland in der Rechtswissenschaft eifrig drüber diskutiert, ob es so etwas wie Rettungsfolter, ob es so etwas wie ein Feindstrafrecht, das auch den Staat zum Übertreten aller rechtlichen Grenzen legitimieren würde; über solche Dinge wurde diskutiert. Im Fernsehen lief seit einem Jahr die Fernsehserie "24", wo der Geheimagent Jack Bauer als Held folternd durch das Land zieht. Das ist eine Diskussion, die ist intensiv geführt worden – in der Tat dann bis dahin, dass es eine Diskussion um eine Verfassungsrichterbesetzung gab, um den Nachfolger des damaligen Vizepräsidenten, in der der an sich liberale Kandidat der SPD, Horst Dreier, nicht akzeptiert wurde, weil er sich in diese Diskussion verstrickt hatte.
Herter: Es war in dieser Diskussion auch immer mal wieder vom übergesetzlichen Notstand die Rede. Passt dieser Begriff in diesem Zusammenhang?
Detjen: Er passt nicht, das ist eindeutig festgestellt worden von der Rechtsprechung, von allen Urteilen im Fall Gäfgen gab es diesen übergesetzlichen Notstand nicht. Und wenn man diese ganze Diskussion, auch die, die ich eben erwähnt habe, die grundsätzliche Diskussion über Folter, über die Grenzen staatlichen Handelns jetzt rückblickend, zehn Jahre, noch mal verfolgt – und dazu bietet ja auch der bevorstehende Jahrestag der Anschläge vom 11. September noch mal einen Anlass –, da muss man sehen, das ist eifrig diskutiert worden, es ist von ernsthaften Rechtswissenschaftlern, auch von höchsten Politikern Sympathie für solche Überlegungen der Legitimierung von Folter in extremen Notsituationen ausgedrückt worden. Aber: Diese Frage hat der Rechtsstaat, hat unser Rechtsbewusstsein, um das es geht, wie ich am Anfang gesagt habe, eindeutig beantwortet. Diese Gesellschaft hat eine Antwort gefunden: Folter ist nicht legitimiert, sie ist und bleibt rechtswidrig in jedem Fall. Und das hat uns dieser Fall Gäfgen gelehrt.
Herter: Informationen, Einschätzungen und Erläuterungen vom Juristen und Chefredakteur des Deutschlandfunks, Stefan Detjen, über den Fall Gäfgen. Besten Dank, Herr Detjen!
-Stephan Detjen, ist dieses Urteil ein Lehrstück deutscher Rechtsprechung?
Stephan Detjen: Ja, Herr Herter, der ganze Fall ist natürlich ein Lehrstück für unser Rechtsbewusstsein insgesamt. Er fordert unser Verständnis des Rechts heraus, von Anfang an – diese Folterandrohung durch den damaligen Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner war ja wie die Realisierung eines Lehrstücks aus den Lehrbüchern der Rechtsphilosophie. Das wurde dort seit vielen Jahrzehnten unter dem Begriff Ticking Bomb Scenario verhandelt – also: Was darf der Einzelne, was darf der Staat tun, wenn es darum geht, höchste Rechtsgüter zu schützen? Hier eben der Fall, wo ein höchstes – nach unserem Grundgesetz das höchste Rechtsgut der Grundrechteordnung, die Menschenwürde – verletzt wurde, um ein anderes höchstes Rechtsgut, das Leben, zu schützen. Das ist ein Dilemma. Im Fall Gäfgen wurde diese Frage jetzt seit zehn Jahren ja bis zur letzten Konsequenz dann durchdekliniert. Also, es wurde festgestellt von deutschen Gerichten, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, es ist hier durch den Staat, durch die Polizei, rechtswidrig gehandelt worden. Gäfgen wurde damit primär natürlich immer noch Täter, aber eben auch zum Opfer. Das ist schwer zu verstehen, das fordert uns heraus, aber das Recht zwingt eben dazu und ermöglicht das aber auch, das fein säuberlich zu differenzieren, bis hin zu den Konsequenzen.
Herter: Das heißt, dieses Urteil ist richtig?
Detjen: Ich glaube, es ist im Grundsatz richtig, indem es noch mal unterstreicht: Hier wurde rechtswidrig gehandelt, das hat auch Konsequenzen, möglicherweise auch zugunsten des Täters. Ob es in seiner letzten Ausführung, also auch in der Zubilligung einer Entschädigungssumme von doch immerhin 3.000 Euro richtig ist und Bestand haben wird, da bin ich mir noch nicht so ganz sicher. Der vorsitzende Richter hat in seiner Urteilsbegründung gestern nicht nur gesagt, dass die Frankfurter Polizei rechtswidrig gehandelt habe, sondern er hat das Verhalten in seiner mündlichen Urteilsbegründung zunächst verwerflich genannt – das ist ein besonders drastisches Urteil, das nicht ganz nach meiner Einschätzung übereinstimmt mit dem früheren Urteil der Großen Strafkammer des Landgerichtes Frankfurt über das Verhalten des Polizeipräsidenten Daschner, der ja auch angeklagt war. Im Urteil damals, 2004, wurde er zu einer relativ milden Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Und das Gericht hat ihm damals ganz ausdrücklich eine ehrenwerte, verantwortungsbewusste Gesinnung attestiert. Da gibt es möglicherweise einen Widerspruch in den Wertungen. Und da muss man abwarten, wie das Urteil schriftlich begründet wird. Und es gibt ja auch noch die Möglichkeit, sowohl für den bekanntermaßen streitlustigen Gäfgen, aber auch für die Staatsanwaltschaft, Berufung gegen dieses Urteil einzulegen.
Herter: Lassen Sie uns noch mal zurückblicken auf die juristische Diskussion, die es da gegeben hat. Da gab es einen designierten Verfassungsrichter, der dann doch nicht Verfassungsrichter wurde, weil er sich eben einfach in diese Diskussion um Foltererlaubnis – wann kann das zulässig sein – geäußert hat. Um was ging es da?
Detjen: Man muss ja sehen, dieser Fall Gäfgen und der Fall Daschner, der es ja auch war, fiel in eine Zeit, da waren die Terroranschläge von New York gerade mal fast auf den Tag genau ein Jahr her. Da hat die amerikanische Armee im Afghanistankrieg mit präsidialer Rückendeckung gefoltert. Da wurde auch in Deutschland in der Rechtswissenschaft eifrig drüber diskutiert, ob es so etwas wie Rettungsfolter, ob es so etwas wie ein Feindstrafrecht, das auch den Staat zum Übertreten aller rechtlichen Grenzen legitimieren würde; über solche Dinge wurde diskutiert. Im Fernsehen lief seit einem Jahr die Fernsehserie "24", wo der Geheimagent Jack Bauer als Held folternd durch das Land zieht. Das ist eine Diskussion, die ist intensiv geführt worden – in der Tat dann bis dahin, dass es eine Diskussion um eine Verfassungsrichterbesetzung gab, um den Nachfolger des damaligen Vizepräsidenten, in der der an sich liberale Kandidat der SPD, Horst Dreier, nicht akzeptiert wurde, weil er sich in diese Diskussion verstrickt hatte.
Herter: Es war in dieser Diskussion auch immer mal wieder vom übergesetzlichen Notstand die Rede. Passt dieser Begriff in diesem Zusammenhang?
Detjen: Er passt nicht, das ist eindeutig festgestellt worden von der Rechtsprechung, von allen Urteilen im Fall Gäfgen gab es diesen übergesetzlichen Notstand nicht. Und wenn man diese ganze Diskussion, auch die, die ich eben erwähnt habe, die grundsätzliche Diskussion über Folter, über die Grenzen staatlichen Handelns jetzt rückblickend, zehn Jahre, noch mal verfolgt – und dazu bietet ja auch der bevorstehende Jahrestag der Anschläge vom 11. September noch mal einen Anlass –, da muss man sehen, das ist eifrig diskutiert worden, es ist von ernsthaften Rechtswissenschaftlern, auch von höchsten Politikern Sympathie für solche Überlegungen der Legitimierung von Folter in extremen Notsituationen ausgedrückt worden. Aber: Diese Frage hat der Rechtsstaat, hat unser Rechtsbewusstsein, um das es geht, wie ich am Anfang gesagt habe, eindeutig beantwortet. Diese Gesellschaft hat eine Antwort gefunden: Folter ist nicht legitimiert, sie ist und bleibt rechtswidrig in jedem Fall. Und das hat uns dieser Fall Gäfgen gelehrt.
Herter: Informationen, Einschätzungen und Erläuterungen vom Juristen und Chefredakteur des Deutschlandfunks, Stefan Detjen, über den Fall Gäfgen. Besten Dank, Herr Detjen!