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Gaito Gasdanow: "Nächtliche Wege"
Autos, Spitzel, jede Menge Agenten

Hochgelobt wurde in diesem Jahr das Werk des ossetisch-russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow, der erst seit 2012 auf Deutsch zu lesen ist. Umso betrüblicher ist, dass die aktuelle Übersetzung mangelhaft ist.

Von Christoph Haacker | 13.09.2018
    Buchcover: Gaito Gasdanow: "Nächtliche Wege" Paris - Pont Neuf bei Nacht
    Paris - Pont Neuf bei Nacht (Buchcover: Hanser Verlag, Foto: picture-alliance / dpa/R2656_Chad_Ehlers)
    Gaito Gasdanow, geboren 1903 in Sankt Petersburg, war ein Zeitgenosse des von ihm bewunderten Vladimir Nabokov. Er kämpfte im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen, was, wie bei Michail Bulgakov, in sein späteres Werk einfloss. Gasdanow gelangte übers Schwarze Meer nach Istanbul, und von da nach Europa. Für die Flüchtlinge seiner Generation bestand das aus kaum mehr als Berlin und Paris.
    1923 erreichte also auch er die französische Hauptstadt. Eine Kolonie emigrierter russischer Literaten tummelte sich hier, ein "Russki Montparnasse". Darunter waren ältere wie Ivan Bunin und Michail Ossorgin, die beide Gasdanow förderten. Und ein Haufen jüngerer wie Marina Cvetaeva und Boris Poplavskij, wie Nina Berberova, Il´ja Erenburg und Vladimir Nabokov. Der schrieb ernüchtert: "Mit Paris sind meine allertrübsten Erinnerungen verbunden …"
    Die Not der Künstler im Pariser Exil ist oft geschildert worden. So hat etwa Michel Matveev in "Das Viertel der Maler" die Künstlerkolonie La Ruche beschrieben. Gasdanow hatte sein kärgliches Auskommen, aber nicht etwa als Autor, sondern als Lokomotivenwäscher, Mechaniker bei Citroën und vor allem als Nachttaxifahrer. Was also lag näher, als darüber ein Buch zu schreiben:
    "Und genauso absurd, genauso schizophren war es, dass ich am Steuer eines Autos saß, eine graue Schlägermütze auf dem Kopf, eine Papirossa im Mundwinkel, und im Argot mit allem möglichen Nachtgesindel […] über Kunden, schwierige Verhältnisse, Vermieter, berufliche Interessen redete oder mit betrunkenen Fahrgästen oder verdächtigen Subjekten sprach, die eindeutig Diebesgut in meinem Wagen transportierten – und dass ich, nach Hause zurückgekehrt, wieder automatisch und augenblicklich in einer anderen Welt lebte …"
    Primadonna der Prostitution
    Weit stärker als etwa in Alexander Lernet-Holenias verfilmtem Roman "Ich war Jack Mortimer" von 1933 um einen Taxler, der sich in eine groteske Kriminalgeschichte verstrickt, ist bei Gasdanow die Bewegung, das Erleben im Auto selbst und vom Auto aus ein wesentliches Element. Die Stadt wird mit dem Taxi durchmessen, von der Straße aus beobachtet. Steigen Fahrgäste ein …
    "… fühlten sich diese Leute generell nicht veranlasst, ihr Verhalten einem Chauffeur gegenüber zu mäßigen: ‚Ist es nicht egal, was ein Mensch von mir denkt, den ich nie wiedersehe und der keinem meiner Bekannten etwas erzählen kann?‘ Auf diese Weise sah ich meine zufälligen Kunden so, wie sie tatsächlich waren."
    Aus den zahlreichen flüchtigen Begegnungen schälen sich nur wenige bleibende Typen heraus, gestaltet teils nach Berühmtheiten der Pariser Szene: darunter ein Philosoph der Bars, genannt Platon, und drei Huren: allen voran Raldy, eine in die Jahre gekommene Primadonna der Prostitution, Mentorin der sagenhaft schönen Alice, die sie vergeblich zur Edelhure formen will. Suzanne bittet den Ich-Erzähler um Verschwiegenheit, als sie sich ausgerechnet mit einem seiner russischen Bekannten eine bürgerliche Existenz aufbauen will. Der ahnt zwar nichts von ihrem Vorleben; doch belasten Heimsuchungen eines paranoiden Hausfreunds die junge Ehe:
    "Er hatte ihr mitgeteilt, er wisse […], dass er beschattet werde. […] ‚Verstehen Sie, […] die haben alles: Autos; Spitzel, jede Menge Agenten, von der bestochenen Polizei garantierte Straffreiheit, haufenweise Geld, den Funk, den Telegraphen, all die zahllosen Möglichkeiten, über die eine moderne Organisation verfügen kann. Ich habe nichts, ich bin ein mittelloser russischer Emigrant.‘"
    Gasdanow als Kritiker
    Nicht nur als Taxifahrer erlebt der Erzähler Paris. Die Begegnungen mit seinem Vorgesetzten im Büro einer, wie es heißt, "monströsen halbstaatlichen Institution" wachsen sich zu einer Groteske aus:
    "‘Ich vertraue Ihnen gleich eine ziemlich wichtige Arbeit an‘, sagte er, ‚hier, bitte, stellen Sie nach diesen Heften eine Liste unserer Vertreter in Konstantinopel […] zusammen.‘"
    Ich schrieb die Namen ab […] Doch als ich ihm die Liste nach etwa zwei Stunden brachte, sah er mich an, als wäre ich wahnsinnig.
    ‚Wollen Sie sagen, dass Sie die Liste zusammengestellt haben? Mit anderen Worten, dass der Auftrag, den ich Ihnen erteilt habe, ausgeführt ist?‘
    ‚Ja.‘
    ‚Aber begreifen Sie doch, dass das nicht sein kann! […] Das kann nicht sein, verstehen Sie! Für diese Arbeit braucht man eine Woche, junger Mann. Gehen Sie, gehen Sie.‘"
    Gaito Gasdanow debütierte erst 1926 als Autor. Da machte er sich keine Freunde, als er sich 1936 in der maßgeblichen Pariser Literaturschrift des russischen Exils, "Sovremennye zapiski", kritisch "Über die junge Emigrantenliteratur" ausließ:
    "Hier aber ist die Bewegung vor sechzehn Jahren zum Stillstand gekommen …"
    Eben nicht meisterhaft komponiert
    Aber hat Gasdanow denn selbst durchweg das Format, das er anderswo vermisst und das ihm die Übersetzerin Christiane Körner bescheinigt? Sie jedenfalls feiert in ihrem Nachwort "Nächtliche Wege" als "meisterhaft komponiert" und stellt das "hochmoderne Sujet" heraus. Dabei handelt es sich bei dem, was hier als Roman etikettiert wird, doch allenfalls um unwesentlich fiktionalisierte Erinnerungen. Um ein Hereinschnuppern in Lebensgeschichten, ein Auf und Ab zwischen den Taxifahrten und den Pausenzeiten, die in Stammbars und Cafés verbracht werden.
    So bewegt sich diese Prosa auch zwischen unterkühlter, fast soziologischer Studie, Reflexionen und Autobiographie, oft plätschert sie bloß dahin. Um wieviel fesselnder ist das Paris der Halbwelt von Autoren wie Walter Serner und Bruno Jasieński beschrieben worden, von Charles-Louis Philippe! Wie ist dieses Buch blass gegen das modernistische fabulierende Feuerwerk, das Il´ja Zdanevič hier mit seinen Romanen zündet! Dagegen liest sich Gasdanow oft wie eine Aneinanderreihung von Phrasen:
    "Und auf dem Heimweg in der Morgendämmerung dachte ich an die nächtlichen Wege und die dumpf verstörende Bedeutung dieser letzten Jahre … an jenen stummen und gewaltigen Luftstrom, der meinen Weg durch dieses unheilvolle und phantastische Paris gekreuzt hat und groteske und mir fremde Tragödien mit sich führte, und ich verstand, dass ich von nun an alles mit fremden Augen sehen würde …"
    Die europäische Nacht
    Völlig zu Recht streicht die Übersetzerin dagegen heraus, wie sehr das, was Gasdanow beobachtet und beschreibt, das Vorspiel zur "universalen Katastrophe" sei. Europa habe ausgespielt, die Menschheit sei am Ende. Die Franzosen und die Fremden sind gleichermaßen in ruhmreichen Vergangenheiten stärker zuhause als in einer siechen Gegenwart, an der sie zunehmend zerbrechen. Ein Pariser Zeitgenosse von Gasdanow, Vladislav Chodasevič, hat sein Spätwerk in einem verwandten pessimistischen Lebensgefühl "Evropejskaja noč" überschrieben, "Europäische Nacht":
    "O Elendsviertel, Lasterdielen!
    Ich kannte keine Müdigkeit, wenn ich
    Mich unerkannt an jene Orte schlich,
    Wo Wut und Scheußlichkeit regieren.
    Wenn nichts als Unrat in der Seele bleibt,
    Im viehischen Gestanke der Verwesung,
    Erfahre ich satanische Belebung
    Vom faulen Atem meiner Zeit."
    Nach Atem ringend vor Mitgefühl
    Von zeitgeschichtlichem Interesse ist Gasdanows Portrait eines ungenannten russischen Exilpolitikers. Dahinter lässt sich unschwer Aleksandr Kerenskij erkennen, der nach dem Sturz des Zaren kurz an der Spitze der Regierung stand:
    "Vor vielen Jahren kannte ganz Russland diesen Mann, denn er bestimmte formal die Geschicke des Landes – und ich sah überall seine zahllosen Porträts; Zehntausende lauschten seinen Reden, und jedes seiner Worte wurde wiederholt, als werde ein neues Evangelium verkündet. […] Er war recht gebildet, nicht ohne Humor, jedoch pathologisch unfähig, elementarste politische Wahrheiten zu verstehen."
    Woran aber liegt bei all dem, woraus Gasdanow hätte schöpfen können, dass, wie auch hier, seltsam kein Funke überspringt? Nicht was, sondern wie er beschreibt, bleibt konventionell, oft bedeutungsschwanger aufgeblasen, dabei merkwürdig steif. Als Beispiel mag eine vermeintliche Schlüsselszene, gleich auf der ersten Seite, gelten, wo eine malade Greisin beschrieben wird, die nachts auf einer Art Liegefahrrad durch Paris zuckelt:
    "Ich schaute ihr nach, geradezu nach Atem ringend vor Mitgefühl, dem Bewusstsein absoluter Unwiderruflichkeit und einer brennenden Neugier, die physischem Durst ähnelte. Natürlich erfuhr ich nicht das Geringste von ihr. Doch der Anblick des sich entfernenden Invalidenkarrens und sein langsames Knarren […] fachte in mir jäh einen unersättlichen Wunsch an, der mich den letzten Jahren kaum je verlassen hatte – viele fremde Leben kennenzulernen und zu versuchen, sie zu verstehen."
    Ein enttäuschter Eindruck
    Seltsam klingt diese Initialzündung für die Schriftstellerei – und damit rückt die Übersetzung in den Blick: Plötzlich zieht die nächtliche Szene den Erzähler in den Bann. Dann wird dieses "Jähe" widersinnig mit dem Plusquamperfekt verbunden: ein "Wunsch, der mich kaum je verlassen hatte". Im Original gibt es hier auch keine Vorzeitigkeit, und es müsste heißen: "ein unersättlicher Drang, der mich in den folgenden Jahren kaum losließ". Was hier als "physischer Durst" übersetzt wurde, wäre zudem mit "ein körperlicher Drang" oder sogar mit "Verlangen" besser erfasst, und statt der "Unwiderruflichkeit" wäre "Unabänderlichkeit" treffender.
    Dick aufgetragen sind all diese Emotionen, aber von diesem "Brennen" ist nichts zu spüren. Die Bilder, nicht nur das "um Atem-Ringen vor Mitgefühl", wirken schief, bei allem Pathos saft- und kraftlos. Oder ist gerade mit dieser Langeweile ein Lebensgefühl jener sinnsuchenden Pariser Gestalten adäquat wiedergegeben? Aber es wird ja das Gegenteil behauptet: allerstärkste Gefühle. So bleibt ein Unbehagen mit diesem Buch, das Fragen aufwirft, auch an die Übersetzung und das Lektorat. Am Ende steht der enttäuschte Eindruck, dass der junge Gasdanow mit "Nächtliche Wege" hinter der Klasse seiner tatsächlichen Romane "Ein Abend bei Claire" von 1929 und "Das Phantom des Alexander Wolf" zurückbleibt, auf denen seine enthusiastische Wiederentdeckung in Russland und anderswo beruht.
    Gaito Gasdanow: "Nächtliche Wege"
    aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Christiane Körner
    Carl Hanser Verlag, München. 288 Seiten, 23 Euro.