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Gang vor Verfassungsgericht ist das "allerwichtigste Recht überhaupt"

Die Opposition sinkt im Falle einer Großen Koalition im neuen Bundestag unter 25 Prozent Stimmenanteil. Sie kann damit viele Kontrollen nicht mehr durchführen. Der Verfassungsrechtler Hans-Peter Schneider plädiert deshalb für Gesetzesänderungen.

Bettina Klein im Gespräch mit Hans-Peter Schneider |
    Bettina Klein: Und mitgehört hat der Staatsrechtler Hans-Peter Schneider, mit dem wir jetzt über einige der Fragen, die wir gerade schon angedeutet haben, sprechen wollen. Guten Tag, Herr Schneider!

    Hans-Peter Schneider: Guten Tag!

    Klein: Ich grüße Sie. Für Sie heute auch ein spannender Tag, oder sehen Sie das eher geschäftsmäßig?

    Schneider: Nein, das kann man wohl sagen. Es ist ja jede Parlamentseröffnung spannend. Der Alterspräsident setzt da schon gewisse Akzente. Und man darf sehr gespannt sein, wie sich jetzt nun der wahrscheinlich neu gewählte Bundestagspräsident Lammert zu den Minderheitenrechten äußert.

    Klein: Wir haben es gerade schon angesprochen – es ist eher der Normalfall, dass wir einen neuen Bundestag, aber noch keine neue Regierung haben. Die ist nur eine auf Abruf, beziehungsweise geschäftsführend. Bedeutet das irgendeine Einschränkung in ihrem Status oder ist das eigentlich alles völlig normal und unbedeutend?

    Schneider: Also, zunächst mal, eine geschäftsführende Regierung hat genau so viele Befugnisse wie eine normale Regierung, da gibt es keine Abstriche. Allerdings kann gegenüber einer geschäftsführenden Regierung kein Misstrauensvotum nun eingelegt werden. Und die geschäftsführende Regierung kann auch nicht, oder der jeweilige geschäftsführende Kanzler, Kanzlerin kann auch nicht die Vertrauensfrage stellen. Diese beiden Dinge sind ausgeschlossen.

    Klein: Das wird möglicherweise auch nicht mehr relevant werden in den nächsten Wochen, aber danke noch mal für die Klarstellung. Herr Schneider, wir sprechen seit einiger Zeit über die Rechte der Opposition, die nur noch eingeschränkt wahrnehmbar sein werden, wenn es denn zu einer großen Koalition kommt, weil die Opposition eben so klein wäre, unter 25 Prozent der Abgeordneten im Parlament. Der Unmut ist in den vergangenen Tagen und Wochen bereits deutlich vernehmbar geworden. Der vermutlich künftige Parlamentspräsident Lammert hat seinerseits bereits Entgegenkommen signalisiert. Gehen wir mal einige Punkte durch, die der Bundestag beschließen könnte, um der Opposition entgegenzukommen, ohne gleich die Verfassung zu ändern. Beispiel Untersuchungsausschuss – wäre das möglich?

    Schneider: Das wäre theoretisch möglich, denn der Untersuchungsausschuss wird ja nicht von der Minderheit eingesetzt im Normalfall, sondern vom Parlament insgesamt. Also, man könnte sich durchaus vorstellen, dass die Linken und die Grünen einen Untersuchungsausschuss gemeinsam etablieren wollen. Allerdings ist der Bundestag dann nicht gezwungen, ihn einzusetzen, wie das normalerweise der Fall wäre, wenn sie ein Viertel der Abgeordneten hätten. Der Bundestag könnte aber mit seiner Mehrheit diesen Antrag einfach passieren lassen, also sich der Stimme enthalten. Und dann wäre der Ausschuss auch eingesetzt. Nur, man muss doch hinzufügen, dann wäre die Opposition jeweils im Einzelfall vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig. Und da sehe ich schon ein gewisses Problem.

    Klein: Wir sagen noch mal dazu, dass im Grundgesetz steht: Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels der Abgeordneten die Pflicht, genau. Das heißt, wenn der Bundestag nur das Recht, aber nicht die Pflicht hat, dann wäre man immer angewiesen darauf, dass sich die Mehrheit im Bundestag enthält?

    Schneider: Der Stimme enthält, ja.

    Klein: Welche Möglichkeiten gäbe es denn, daran etwas zu verändern, oder muss man dann ans Grundgesetz ran?

    Schneider: Es wäre schon wichtig, dass man über Verfassungsänderungen nachdenkt. Und zwar vor allem wegen der bisher fehlenden Möglichkeit, ein Normenkontrollverfahren einzuleiten. Also, der Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 sieht ja vor, dass, wenn Abgeordnete die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, dass der Bundestag beschlossen hat, nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen wollen, dazu ein Viertel der Abgeordneten erforderlich ist. Das kann man nicht durch Geschäftsordnungsregelungen ... Das Bundesverfassungsgericht wird immer prüfen, ist das Viertel da? Haben diese Abgeordneten, die ein Viertel umfassen müssen, unterschrieben? Hier wäre also eine Verfassungsänderung wahrscheinlich unumgänglich.

    Klein: Genau das ist der nächste Punkt, den ich auch gleich hätte ansprechen wollen. Wenn quasi vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ein Gesetz vorgegangen werden soll, da wird jetzt im Augenblick signalisiert, zumindest vom Fraktionsvorsitzenden Kauder haben wir das schon gehört, dass man da eigentlich nicht ran will. Was spricht denn dagegen, das Grundgesetz zu ändern an der Stelle?

    Schneider: Eigentlich spricht nichts dagegen, denn man hat es 2005 schon mal gemacht. Da war das Quorum ein Drittel und man hat es dann auf ein Viertel abgesenkt. Ich denke, dass dieses Recht der Opposition, Gesetze, die von der Mehrheit beschlossen worden sind, auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, das allerwichtigste Recht überhaupt ist. Denn schon die Drohung der Opposition damit, dass sie nach Karlsruhe gehen könnten, hat häufig bewirkt, dass sich dann die Mehrheit doch eines Besseren besonnen hat. Also, ich halte dieses Recht, ein Normenkontrollverfahren einleiten zu können, für das allerwichtigste Oppositionsrecht überhaupt.

    Klein: Da sagen die Gegner einer solchen Regelung, wir können nicht jedes Mal das Grundgesetz ändern, nur weil die Opposition schrumpft. Ist da nichts dran?

    Schneider: Das ist richtig. Ich bin deshalb auch dagegen, dass wir die Quoren ändern ...

    Klein: Sondern?

    Schneider: ... in den einzelnen Bestimmungen, sondern ich bin der Meinung, man könnte eine generelle Regelung schaffen, die da sagt, wenn, sagen wir mal, mindestens zwei Oppositionsfraktionen – das wären die Linken und die Grünen – einen gemeinsamen Antrag stellen, entweder einen Untersuchungsausschuss einzurichten oder Organstreitverfahren, ein Normenkontrollverfahren einzuleiten. Wenn die das tun, dann haben Sie die gleiche Stellung wie die entsprechenden Mitglieder des Bundestages in den einzelnen Quoren. Also man könnte zum Beispiel formulieren: Das Erfordernis der entsprechenden Quoren wird ersetzt gewissermaßen, wenn zwei Fraktionen gemeinsam einen entsprechenden Antrag stellen.

    Klein: Und diese Initiative könnten jetzt Union und SPD zusammen voranbringen, denn sie hätten ja verfassungsändernde Mehrheiten.

    Schneider: Richtig.

    Klein: Gehen Sie davon aus, dass das passiert?

    Schneider: Ich hoffe das. Ich habe ja schon gehört, dass Grüne und die Linke notfalls auch nach Karlsruhe gehen wollen, um ihre Rechte einzuklagen. Ich denke mal, dass das Verfahren so sein wird, dass Grüne und Linke sich zunächst mal verständigen darauf, was sie nun gemeinsam erreichen wollen und dann im Bundestag einen Antrag stellen, die Verfassung zu ändern, jedenfalls in diesem Punkt. Und wenn dieser Antrag abgelehnt wird, dann wäre es durchaus möglich, dass beide Fraktionen gemeinsam oder getrennt im Rahmen einer sogenannten Organklage nun nach Karlsruhe gehen und die Ablehnung einer solchen Verfassungsänderung überprüfen lassen.

    Klein: Herr Schneider, wir hören immer, das Grundgesetz muss die Oppositionsarbeit gewährleisten. Rein theoretisch gefragt und nur als Denkmodell, um das mal zu verstehen: Was wäre denn, wenn gar keine Opposition gewählt würde, nur eine Partei, alle anderen scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde. Wenn die Verfassung vorschreibt, Oppositionsarbeit zu gewährleisten – kann die auch erzwungen werden? Kann man das so weit auslegen?

    Schneider: Nein, das kann man natürlich nicht. Es gibt zwei Varianten, einmal die von Ihnen genannte, alle übrigen Parteien scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde, es gibt nur überhaupt eine Partei. Und die zweite Variante, die ebenso denkbar wäre, ist die Allparteienregierung, also alle Fraktionen im Bundestag bilden gemeinsam die Regierung. Dann gäbe es auch keine Opposition.

    Klein: Und das wäre dann auch mit dem Grundgesetz vereinbar?

    Schneider: Das ist auch natürlich mit dem Grundgesetz vereinbar. Aber wenn es eine Opposition gibt, also wenn nicht alle beteiligt sind, dann müssen die entsprechenden Minderheitsrechte gewahrt werden. Und ich sehe darin sogar ein Verfassungsgebot, das sich aus dem Demokratieprinzip ergibt. Denn Demokratie heißt ja nicht nur, Mehrheit entscheidet, sondern auch, Minderheit wird entsprechend geschützt. Die Opposition muss ja in die Lage versetzt werden, nicht nur Regierungsarbeit zu kritisieren, zu kontrollieren, sondern muss sich auch als glaubwürdige Alternative anbieten, bei den nächsten Wahlen dann zur Mehrheit zu werden und die Regierung zu stellen.

    Klein: Die Meinung des Staatsrechtlers Hans-Peter Schneider zu den Rechten der Opposition im Deutschen Bundestag, heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Ich danke für das Gespräch!

    Schneider: Bitte schön!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.