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Gauck

Günter Müchler |
    DLF: Herr Gauck, Sie sind der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. So lautet die Amtsbezeichnung. Tatsächlich aber spricht alle Welt nur von der 'Gauck-Behörde'. Stört es Sie, daß das Amt, das ja nicht nur Freunde hat, das vielen lästig fällt, so mit Ihrem Namen verbunden ist?

    Gauck: Na ja, zunächst hat es mich ziemlich gestört, weil es Leute gab, die gedacht haben, ich hätte mir das selbst ausgedacht oder ich würde meine Eitelkeit damit befriedigen. Das ist natürlich nicht so. Ich habe das ziemlich erlitten zunächst. Das kommt aus der schreibenden Zunft. Die Kollegen aus den Print-Medien kriegen 'Gauck-Behörde' in eine Zeile; mein damaliger Titel - glaube ich - waren 5 Zeilen.

    DLF: Der Bundesbeauftragte, Herr Gauck, braucht die Unterstützung, braucht das Vertrauen der Regierung. Nun befindet sich seit einiger Zeit die Partei des Bundeskanzlers in einer Koalition mit der SED-Nachfolgepartei, mit der PDS, die Stasi-Spitzel in ihren Reihen duldet und Ihrer Behörde am liebsten morgen den Garaus machen möchte. Belastet dieser Anschein der Zwiespältigkeit, ja der Unaufrichtigkeit, Ihre Arbeit?

    Gauck: Nein, im Moment ist das nicht so. Auch hindert mich niemand, meine Meinung zu diesen Dingen zu sagen, und ich will das hier doch etwas differenzierter tun, als eben in Ihrer Moderation. Es ist ja nicht so, daß unsere Regierung und die sozialdemokratische Partei auf Bundesebene einer solchen Koalition das Wort geredet hätten, sondern wir haben in den nordostdeutschen Niederungen ein Testfeld, in dem das nun ausgetestet wird - zu meinem sehr geringen Vergnügen. Und ich habe dazu auch Kritisches in der Öffentlichkeit angemerkt. Ich finde auch, daß das weiter geschehen soll. Ich habe sehr aufmerksam die Stimmen jener Sozialdemokraten gehört, wie Richard Schröder oder Erhard Eppler oder Klaus Böger oder Markus Meckel, die sich dezidiert gegen diese Variante ausgesprochen haben. Ich verstehe die Haltung etwa der Berliner und der sächsischen SPD besser, als die Haltung derer im Osten, die meinen, daß die PDS sich in der Weise verändert hat, daß man mit ihr besser koalieren könne als mit der Union.

    DLF: Lassen Sie uns noch eine Weile zur Kanzlerpartei zurückkommen. Im Wahlkampf, der ja noch nicht so lange zurückliegt, hat der damalige Bundesgeschäftsführer Müntefering - heute immerhin Bundesminister - einen Schlußstrich unter die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit gefordert. Haben Sie darüber einmal mit ihm, vielleicht mit dem Parteivorsitzenden Lafontaine oder gar mit dem Kanzler gesprochen?

    Gauck: Nein, das habe ich noch nicht. Möglicherweise wird das ja geschehen. Ich glaube, daß es dringlichere Themen gibt in der aktuellen Politik als das Thema, mit dem ich befaßt bin. Und ich bin auch nicht besonders nervös bezüglich von Äußerungen, die im Wahlkampf gemacht werden. Ich denke, daß man in aller Ruhe den Deutschen noch einmal die Erfahrung spiegeln sollte, die sie ja gemacht haben mit diversen Versuchen, einen Schlußstrich zu proklamieren. Da fallen uns zunächst mal die Strategien der Nachkriegsära ein. Als in der frühen Adenauer-Ära der Schlußstrich geradezu von gigantischen Mehrheiten unserer Bevölkerung gewünscht wurde, da waren die Regierungsparteien natürlich in der Versuchung, dem nachzugeben. Sie haben sich damit nicht gedient. Es war kurzfristig erfolgreich und mittelfristig desaströs. Letztlich ist die große Dynamik unserer intelligenten Jugend der Nach-68-er ja daher zu verstehen, daß eben moralisch abgerechnet wurde mit einer Generation, die verdrängte und vergaß, statt zu bearbeiten, zu trauern und sich neu zu orientieren. Also, gerade deshalb auch hat ja im Grunde dieser Versuch, mit offenen Akten und offenen Augen die kommunistische Vergangenheit aufzuarbeiten, diese großen Mehrheiten bekommen von rechts bis links seinerzeit in der Volkskammer 90 und dann auch 91, als im Bundestag nach der Einheit, als das Stasi-Unterlagen-Gesetz gemacht wurde. Wir Deutschen haben Erfahrung mit mißlingenden Schlußstrichen, und deshalb ist es sehr, sehr kurzsichtig, wenn nicht töricht, jetzt einen Schlußstrich zu fordern. Ganz genau hingeblickt, wagt das ja auch keiner. Es gibt dann immer so Punkte, wo man sagt: ^bJetzt brauchen wir ein Schlußgesetz' - so hat Egon Bahr seit 2-3 Jahren sich immer mal wieder vernehmen lassen. Und wenn wir genau hinschauen, sind das immer Teilbereiche, wo man ein Ende der Debatte möchte - etwa bei der Strafverfolgung. Das alles hat sich aber auch nicht durchsetzen lassen. Die Sozialdemokraten haben sehr heftig darüber debattiert und haben dann zum Beispiel der Verlängerung der Verjährungsfristen für mittelschwere Kriminalität noch einmal zugestimmt. Ich war inzwischen dagegen, und das ist dann doch noch mal beschlossen worden.

    DLF: Aber nun hat gerade Gysi, was den Punkt Strafverfolgung angeht, die Ankündigung gemacht, daß die PDS einen Gesetzentwurf zur Beendigung der Strafverfolgung früherer DDR-Bürger, die hoheitlich tätig gewesen sind, demnächst einbringen werde. Der SPIEGEL hat dieses Vorhaben als ^bGeneralamnestie für die Schließer von Bautzen oder die Schützen an der Mauer' bezeichnet. Wird es hier zu einer Nagelprobe für die demokratischen Parteien kommen?

    Gauck: Ich denke, da können wir ganz beruhigt sein. Die Parlamentarier in Bonn werden erkennen, wem der Herr Gysi mit solchen Vorschlägen dient. Diese Partei ist auch eine Klientel-Partei, und außerhalb der Klientel bedient sie Menschen, die weniger aufgeklärt sind, bedient sie Ressentiments. Und wenn man meint, das unaufgeklärte Potential in der Ex-DDR trösten zu müssen, dann soll man das tun. Wenn man meint, angekommen zu sein in der Rechtswirklichkeit unseres Landes und in der Politikwirklichkeit unseres Landes, dann soll man uns erklären, wie das zusammengeht. Ich sehe hier einen Widerspruch, und ich kann nicht erkennen, daß hier die Mehrheit der deutschen Parlamentarier in Gefahr ist, dem Herrn Gysi zu folgen bei seiner Argumentation.

    DLF: Aber die PDS ist ja nun zweifellos heute hoffähiger, hoffähiger gemacht worden, als sie noch vor ein paar Jahren war. Dieses könnte sich mit zunehmender Indifferenz, gerade in Westdeutschland, paaren. Spüren Sie nicht doch so etwas wie einen stärker werdenden Gegenwind gegen die Arbeit Ihrer Behörde?

    Gauck: Den spüre ich politisch noch nicht. Es gibt die bekannten Figuren, die sich immer mal wieder äußern und die Bauchschmerzen haben. Oft sind es ja auch westliche - alt-westliche - Publizisten manchmal, die eigentlich früher auch nicht besonders dadurch aufgefallen sind, daß sie die DDR besonders genau analysiert haben, die heute mehr für das Vergessen eintreten.

    DLF: An wen denken Sie da?

    Gauck: Nun ja, das wären zum Beispiel Günter Gaus mit seiner Argumentation und mit seiner Definition der DDR als ^bStaat der kleinen Leute'. Aus solchen Irrtümern leiten sich spätere Erinnerungslücken her, und wenn man perpetuierte Ohnmacht als System, als Staat der kleinen Leute definieren kann, dann ist man auch später zu allerhand anderen Vorschlägen fähig, die ein bißchen an der politischen Realität vorbeigehen. Es gibt aber etwas anderes. Es gibt immer die Gefahr, es nicht so genau wissen zu wollen. Und wir sehen auf vielen Gebieten, daß sich nicht nur von den Rändern her, sondern aus der Mitte der Gesellschaft her eine Unlust am Politischen unter die Menschen begibt. Das ist eine Gefahr, auf die viele demokratische Gemeinwesen zugehen, daß das Personal, das teilhaben will an der politischen Mitgestaltung, immer geringer wird. Und dann werden grundsätzliche politische Debatten, die etwa den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur immer wieder für wichtig halten und benennen wollen, weniger wichtig. Dann wird es wichtiger, sich zu amüsieren und nett zueinander zu sein. Und da kommt im Grunde von den Unaufgeklärten der Ex-DDR und von diesem Personal, das es einfach nicht so trist haben will und das ein bißchen Fun haben will - da könnte es Koalitionen geben, die dann wieder auch Wählerstimmen sind und irgendwann Mehrheiten werden können. Und dann kommt die Stunde derer, die wissen, daß die Vergangenheit nicht vergeht; insbesondere nicht, wenn wir sie totmachen wollen. Die Gefahr haben wir aber noch nicht.

    DLF: Wird es die Gauck-Behörde - um den Begriff zu übernehmen - in ein paar Jahren, ich sage mal im Jahre 2005, noch geben?

    Gauck: Aber ganz sicher. Wir werden dann anfangen, unsere Arbeit zu konzentrieren auf die Tätigkeiten, die uns auf Dauer bleiben. Das sind die Hilfe bei der Akteneinsicht für jedermann, übrigens auch bei der Akteneinsicht für Verstorbene ersten Grades. Das bleibt uns als Aufgabe. Daneben die Zuarbeit für die Recherchen der Journalisten und insbesondere der Forscher. Und die rund 180 Kilometer Schriftgut in unseren Archiven sind eben, für die Zukunft gesehen, ein riesiges Arsenal für Basisinformationen aus einer entfremdeten Politikwelt. Eigentlich - so habe ich es früher mal gesagt und kann das hier gerne wiederholen - eigentlich handelt es sich um ein Politikdenkmal, ein sehr unangenehmes. Aber es ist ein Denkmal für die Arroganz einer Macht, die sich nie vom Volk hat Macht zuteilen - auf Zeit - zur Verfügung stellen lassen, sondern die dieser Macht gewiß war - gerade, weil man das Volk nicht fragen mußte. Es zeigt die Arroganz der Mächtigen, die gegenüber dem Volk stehen. Es zeigt, was sie vom Volk hielten und wie Diktatur, auch wenn sie Ärmelschoner angezogen hat und nicht mehr foltert und mordet, hineindringt in die Lebenszellen einer Gesellschaft bis hinein ins Allerprivateste - und wie sie dort eine Kultur des Mißtrauens schafft, wie das politische Agieren und das menschliche Miteinander beides praktisch ausgehöhlt werden, aufs Äußerste belastet werden. Für all das sind diese Dokumente da, und es wird in späteren Zeiten einen Run der Wissenschaft geben auf diese Dokumente, auf diese Feinstruktur von Unterdrückung.

    DLF: Herr Gauck, der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat dieser Tage gemeint, die Kritik an der rot-roten Koalition in Mecklenburg-Vorpommern sei eine typisch westdeutsche Kritik. Daraus könnte man den Schluß ableiten, in Ostdeutschland nehme man es mit der Demokratie so ernst nicht. Wie verstehen Sie die Äußerung von Weizsäcker?

    Gauck: Nun, sicher gibt es eine westliche voreilige Urteilsbildung, allerdings gibt es die in beiden Richtungen. Es gibt sie bei der Verurteilung der Ostdeutschen und ihrer Mentalität, und es gibt sie in einer Art Vorentschuldigung. Und beides ist schädlich. Ich denke, daß ich an diesem Punkt Richard von Weizsäcker nicht folgen kann. Es ist ein erhebliches Problem der ostdeutschen Bevölkerung. Wir wollen nicht vergessen, daß 75 Prozent der Ostdeutschen die PDS nicht wählen. Und darunter gibt es wiederum einen großen Prozentsatz, und zwar insbesondere die Regimeopfer, die diese Wiederankunft nach kurzer Zeit der einstigen Kaderzöglinge der Partei auf Regierungsbänken mit überaus gemischten Gefühlen, ja mit Ablehnung begleitet. Ich habe - zu meinem Erstaunen - kurz nach dem Schmieden der Koalition in Schwerin in der Süddeutschen Zeitung eine Geschichte gelesen eines Ehepaares, das sich überlegt, nun von Mecklenburg nach Bayern zu ziehen. Das fand ich interessant, daß die Süddeutsche Zeitung diesen Bericht brachte. Die Leute waren gar nicht besonders skurril. Ich halte ihre Entscheidung natürlich für überzogen und denke, wenn man schon zu DDR-Zeiten dageblieben ist, dann kann man jetzt erst recht dableiben, aber diese Leute haben es anders gefühlt. Es geht keine Gefahr aus. Wir wollen nicht hysterisch werden. Wenn die PDS in einer Landesregierung mit Sozialdemokraten koaliert, geht keine Gefahr für unser Gemeinwesen von denen aus. Nur es fragt sich, ob die Sozialdemokratische Partei dabei gewinnt oder ob sie eher verliert. Und es fragt sich, ob wir den Postkommunisten gerade dann, wenn sie sich unaufgeklärt zeigen - und das tun sie zum Beispiel, wenn sie die Stasi-Überprüfung in Schwerin negieren oder wenn sie die Ausstellung über Justiz in der DDR des Bundesministeriums für Justiz nicht zeigen wollen -, wenn sie das tun, ob man ihnen dann Morgengaben offerieren soll oder es ihnen auf den Regierungsbänken gemütlich machen soll.

    DLF: Wer von Mecklenburg nach Bayern möchte, der kommt wahrscheinlich durch Brandenburg. Und in Brandenburg soll, gestützt von der PDS und Teilen der SPD, die Schriftstellerin Daniela Dahn Verfassungsrichterin werden, Daniela Dahn, die nach Auffassung von Bürgerrechtlern sich zynisch über Mauertote und Stasi-Opfer geäußert hat. Politisch entscheiden muß letztlich Ministerpräsident Stolpe. Wie sollte er sich entscheiden?

    Gauck: Nun, ich habe keine Absicht, mich in Stolpes Entscheidungsprozesse einzumischen. Nur, es ist ganz klar - das weiß jeder, der meine Beiträge liest und mich hört -, daß ich einen anderen politischen Ansatz verfolge als Daniela Dahn und infolge dessen ihren Unterstützern um Günter Gaus und anderen nicht und den Bürgerrechtlern erheblich folgen kann. Für mich ist es unverständlich, daß bei der Recherchefähigkeit von Frau Dahn bei ihr - grob gesehen - immer folgendes raus-kommt: Die Summe der Fehler ist gleich in der Diktatur und der Demokratie. Hier ist für mich ein wirkliches Demokratiedefizit feststellbar. Für mich ist sie eine Schutzheilige der Unaufgeklärten, die sich ihrer Argumentation und ihrer emotionalen Verve kräftig bedienen. Es ist aber etwas anderes angezeigt: Wir brauchen die entschlossene Abwehr auch unserer inneren Bindung an die Zeit der Unterwerfung. Wir brauchen einen klaren Blick dafür, wie lange Zeit wir brauchen, um uns innerlich davon zu lösen, wie wir unter einer Ideologie unsere Bürger- und Menschenrechte schrittweise abgegeben haben, wie wir entmächtigt worden sind. Die Entmächtigten, die in 40 Jahren - oder in 30 Jahren, wenn sie jünger sind - entmächtigt worden sind, sind aber zum Teil noch nicht in dem Bewußtsein angekommen, daß ihnen etwas Fürchterliches passiert ist. Und sie neigen dazu, ihren alten Frust durch einen neuen Frust zu ersetzen, der darin besteht, daß unsere Regierung eben nicht alle Probleme lösen konnte, und die künftige wird es auch nicht tun. Und dann kann man kräftig das antiwestliche Ressentiment bedienen. Im Grunde genommen begegnet eine zweite Gefahr in der Argumentation solcher Intellektueller wie Daniela Dahn: Daß eine deutsche Sonderweg-Mentalität gestützt wird, für die wir schon immer gut waren. Es gibt genug Beispiele, daß wir im Grunde auf dem richtigen Wege wären, wenn wir nur einem richtigen antiwestlichen Impuls folgen würden. Und ich warne davor, daß wir das zu unserer politischen Normalität erklären. Nein, wir haben aufzuwachen, und die Beugung und die innere Knechtschaft, die uns widerfahren ist, als solche zu erkennen. Und dann können wir nicht, wie Frau Dahn es tut, im Grunde die Fehler der Demokratie gleichsetzen mit dem Gebresten der Diktatur.

    DLF: Einige Bürgerrechtler hatten kürzlich von Präsident Clinton gefordert die Überstellung von Stasi-Akten, die in der Wendezeit vom CIA mitgenommen worden sind. Welchen Erkenntnisfortschritt versprechen Sie sich von diesen Akten?

    Gauck: Nun, deutsche Behörden - und damit jetzt auch wir - verfügen über Informationen zu westdeutschen IM, die jahrelang für die Stasi gearbeitet haben. Der Generalbundesanwalt hat ja Hunderte von Verfahren eröffnet und viele auch abgeschlossen. Darüber hinaus vermuten wir aber, daß bei den Amerikanern Unterlagen sind zu ostdeutschen IM der Hauptverwaltung Aufklärung, die wir nicht erhalten haben, oder aber zu inoffiziellen Mitarbeitern, die in anderen Ländern für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Meine Behörde hat nun den Auftrag, die Öffentlichkeit zu informieren über Struktur und Wirkungsweise des Ministeriums für Staatssicherheit. Wir wollen ganz umfassend darstellen, wie die Stasi gewirkt hat. Und sie hat eben nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland gewirkt. Und ich könnte mir vorstellen, daß es auch für Amerikaner - jetzt meine ich nicht speziell Geheimdienstler, sondern für politisch urteilende Menschen - wichtig wäre, einen kommunistischen Geheimdienst ganz systematisch exemplarisch darzustellen. Es ist wohl schwer vorzustellen, daß wir noch einmal einen so umfangreichen Aktenzugang zu allen Geheimdienstakten bekommen, wie wir ihn zur Zeit in Deutschland haben. Und wir haben ihn, aber nicht zu den Unterlagen der Außenspionage, der HVA, die aber integraler Bestandteil des Stasi-Systems war.

    DLF: Rechnen Sie auch mit weiteren Aufschlüssen über in Westdeutschland tätig gewesene IM?

    Gauck: Eher nicht. Ich gehe davon aus, daß die Amerikaner uns dies gegeben haben. Es gibt Leute, die vermuten, daß man dort selektiert habe. Ich habe keinen Grund, das anzunehmen, aber es wäre für uns interessant zu wissen, ob außer den Karteikarten, die es dort abgelichtet gibt, noch zusätzliche Informationen vorhanden sind. Und das andere wären die Personen in der ehemaligen DDR oder in den anderen Ländern. Es wäre dann möglich, umfangreich über diesen Bereich wissenschaftlich zu arbeiten. Ich würde mich freuen, wenn darüber auf der politischen Ebene in Ruhe gesprochen würde, denn geheimdienstlich sind diese Unterlagen ja ausgewertet. Das ist ja in all diesen Jahren erfolgt und ich denke, politische Aufklärung ist ein hoher Wert in der Demokratie. Und ich suche nach Verbündeten für diese Auffassung auch in Amerika.

    DLF: Müßte nicht eigentlich die Bundesregierung oder müßte nicht auf diplomatischen Kanälen statt durch Bürgerrechtler dieses Ansinnen vorgetragen werden?

    Gauck: Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung seinerzeit das getan hat und gehe auch davon aus, daß die jetzige Bundesregierung das tut. Und hier wiederhole ich: Es geht nicht nur darum, daß Geheimdienstspezialisten miteinander reden. Ein Geheimdienstspezialist freut sich, wenn er eine schöne Information hat oder eine ganze Kassette oder eine ganze Datei, und es ist für ihn schwer vorstellbar, daß es politische Ziele gibt, die genau so viel wiegen oder möglicherweise noch mehr, als seine eigene Tätigkeit. Ich will hier überhaupt keine Zensur der geheimdienstlichen Arbeit vornehmen, ich möchte nur sagen: Politische Aufklärung ist ein hoher Wert, und Quellen, die diese politische Aufklärung begünstigen können, gehören in die öffentliche Nutzung. Das ist in Amerika eigentlich viel weiter verbreitet als bei uns, dieses Wissen. Der Zugang dort zu Informationen, die der Staat hat, ist durchsichtig geregelt. Es gibt ein Gesetz, den ^bFreedom of Information Act', der dem Bürger seine Rechte ganz exakt zuweist. Und ich denke mir, unter politischen Köpfen müßte eine Regelung dieses Problems zu erreichen sein.

    DLF: Letzte Frage, Herr Gauck. Die Erinnerungskultur, von der wir lange geglaubt haben, daß sie existiere und nicht wirklich umstritten sei, sie wird plötzlich auf breiter Front in Frage gestellt. Eine öffentliche Diskussion über das Schwarzbuch, das sich mit den Verbrechen kommunistischer Regime in aller Welt befaßt und zu dem Sie ein Nachwort geschrieben haben - diese Diskussion konnte in Berlin nicht zustande kommen, weil die Veranstaltung von Linksradikalen massiv gestört wurde. Es gibt die nicht enden wollende Debatte über das Mahnmal Holocaust in Berlin. Es gibt zudem die bittere Kontroverse zwischen Walser, Bubis und Dohnany über Form und Dosierung der Erinnerung an den Holocaust. Ist der Umgang der Deutschen mit der Vergangenheit in eine Krise geraten?

    Gauck: Wenn, dann gibt es mehrere Krisen. Wir müssen uns auch bewußt machen, daß offensichtlich jede Generation bestimmte Dinge für sich neu entdecken muß: Zum Beispiel den geeigneten Umgang mit der deutschen Schuld während des Dritten Reiches. War es für die Opfer seinerzeit eine fürchterliche Erfahrung, daß sie in der öffentlichen Wahrnehmung an den Rand gedrückt worden ist, so mögen viele eine späte Genugtuung empfunden haben, als eine Generation später die Deutschen im Grunde nur noch als Täter und Mörder wahrgenommen worden sind. Dann wiederum geriet etwas aus dem Blick, was die Deutschen unmittelbar nach dem Krieg sehr beschäftigt hat: Das Leiden der Deutschen etwa, die ihre Heimat verloren haben, die ja nicht schuldiger waren am Nazisystem als andere Deutsche. Darüber wurde dann gar nicht mehr gesprochen. Oder Deutsche, die zu Unrecht getötet worden sind unmittelbar nach dem Krieg. Das heißt, wir schütten vielleicht zu gern das Kind mit dem Bade aus. Nach dem Krieg haben wir die Schuld so intensiv von uns weggehalten, daß der Gegenpendelschlag gelegentlich Züge einer Neurose annahm. Wenn man das eigene Volk in einer Art von negativem Nationalismus ausschließlich als Mördernation definieren kann, und wenn man das tut, obwohl man vielleicht 30 Jahre alt ist - also gar keinen konkreten Bezug mehr dazu hat - und nach den Mördern ganz andere Deutsche die Politik gestaltet haben, dann stimmt etwas nicht. Deshalb wünsche ich mir mehr Genauigkeit und Sensibilität beim Umgang mit der Vergangenheit.