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Gauck: Tillich sollte offensiver mit seiner Vergangenheit umgehen

In der Diskussion um die genaue Funktion des heutigen Ministerpräsidenten von Sachsen in der DDR-CDU, Stanislaw Tillich, mahnt der ehemalige Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde Joachim Gauck, die Diskussion etwas "tiefer zu hängen". Die Vorwürfe gegen Tillich seien weniger bedeutend im Vergleich zu anderen Belastungen in der Politik.

Joachim Gauck im Gespräch mit Friedbert Meurer | 02.12.2008
    Friedbert Meurer: In welchem Licht sehen Sie das Verhalten von Stanislaw Tillich?

    Gauck: Bei dem ganzen Thema würde ich sagen "tiefer hängen", denn was wir eigentlich nach dem großen Umbruch nicht wollten war, die Mitarbeit von Stasi-Mitarbeitern, offiziellen wie inoffiziellen, im öffentlichen Dienst und in wichtigen politischen Stellen. Nun muss man natürlich sagen, dass diese Art und Weise, wie Herr Tillich seinen Eintritt in die CDU heute darstellt, jedenfalls in dem Ausschnitt, den Sie eben eingeblendet haben, so ein bisschen schönend auf die Vergangenheit guckt. Natürlich war es nicht das größere Zeichen von Courage, in die CDU einzutreten, anstelle parteilos zu bleiben. Das kann er vergessen!
    Auf der anderen Seite haben wir unter den Gestaltern des neuen Deutschlands nach '89 und auch während des revolutionären Umbruchs sehr viele Mitglieder der Block-CDU und man hat sie niemals außen vor gehalten, weil sie in der Block-CDU waren. Natürlich wäre es schöner gewesen, wenn alle wie Rainer Eppelmann - oder ich wäre auch nie in die CDU gegangen -, wenn wir alle Oppositionelle gewesen wären, aber es war nicht so. So viele Oppositionelle gab es in der DDR gar nicht.

    Meurer: Wenn Sie aussagen, Herr Gauck, Sie wären niemals in die Block-CDU eingetreten, was sagen Sie dann zu dem Satz, den es jetzt in einem CDU-Antrag in Stuttgart gibt, dass in der Block-CDU auch Mitglieder sich befanden, die sich für Freiheit und christliche Werte eingesetzt haben?

    Gauck: Ja, das ist sicher so. In der Partei sind viele Menschen untergeschlüpft, die anders schwerer durchgekommen wären. Ich selber habe jungen Leuten, die zum Beispiel Lehrer wurden, geraten, in die CDU einzutreten und auch anderen Personen, für die es wichtig war zu zeigen, dass sie fortschrittlich sind. Lehrer zum Beispiel waren einem sehr starken Druck ausgesetzt, auch Journalisten, in die SED einzutreten, und als Mitglieder der CDU konnten sie zum Beispiel in der Kirche bleiben, als Mitglieder der SED nur äußerst schwer, weil die in der Regel aufgefordert wurden, aus der Kirche auszutreten.

    Meurer: Und wenn sie in gar keine Partei eingetreten wären?

    Gauck: Dann wären ihnen manche Wege eben nicht eröffnet worden. Dazu muss Tillich eben stehen. Er hat ja einen Beruf gehabt – er war Diplomingenieur – und er hätte ja natürlich in seinem Beruf weitermachen können, aber er hat dann es auch reizvoll gefunden, wahrscheinlich von seiner Partei gebeten, in den öffentlichen Dienst einzutreten und Leitungsaufgaben auf der Kreisebene anzunehmen, und landete dann als Verantwortlicher für Handel und Versorgung. Die Ressortchefs in diesen Kreis- und Bezirksebenen hatten dann den Titel "Stellvertreter für ... " und dann kam bei ihm "Stellvertreter für Handel und Versorgung", das heißt Stellvertreter des Vorsitzenden.

    Meurer: Ist das zu kritisieren, diese Funktion, dass man die inne hatte, dass er, Stanislaw Tillich, sie inne gehabt hat?

    Gauck: Nein. Diese Funktion belastet ihn nicht und es ist eher zu kritisieren, dass er nicht offensiver damit umgeht, welche Funktion er gehabt hat. Er war ja keineswegs der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises, denn das wäre der Stellvertreter für Inneres gewesen. Aber ein CDU-Mitglied wäre nie Stellvertreter für Inneres gewesen. Das war der eigentliche Machtschwerpunkt in den Räten der Kreise und Räten der Bezirke, während Handel und Versorgung, na ja, gut, da konnte vielleicht auch dann mal jemand anderes heran. Das war dann ein Vertreter der Blockpartei.
    Man muss heute ehrlich darüber sprechen, was die Rolle der Blockparteien war. Sie waren die Tarnung und sollten den Eindruck – das haben Sie in der Anmoderation ja trefflich ausgedrückt – erwecken, es sei alles demokratisch. Aber es war Tarnung und sie waren Garnitur, aber sie waren keine Menschen, die wirklich geleitet haben, diese Parteimitglieder in der LDP, in der CDU und NDPD, sondern sie waren die Tarnung für die, die die Akteure waren.

    Meurer: Es scheint so zu sein, dass Herrn Tillich das alles peinlich gewesen ist. Sonst hätte er vermutlich ja eben alle Funktionen benannt. Oder welche Erklärung haben Sie?

    Gauck: Ja. Vielleicht war es ihm peinlich. Nun muss man sich auch vorstellen, dass in seiner Partei in Sachsen etwa solche Kämpfertypen wie Arnold Vaatz tätig sind, die aus einem völlig anderen Milieu stammen, die einen Weg der Widerständigkeit gewählt haben, und in der Union sind dann Menschen zusammen gekommen. In Thüringen ist es genauso. In Thüringen: Ich saß in der ersten Volkskammer neben einem Thüringer Pfarrer. Der war eben Mitglied der Ost-CDU gewesen. Ich wunderte mich dann, dass er jetzt so ein begeisterter Kohl-Anhänger war. Und dann gibt es in der Thüringer CDU Menschen wie Erhart Neubert, der jahrelang Leute unterstützt hat, die oppositionell in der Kirche waren, und so ist es in Sachsen auch. Dann muss man natürlich sehen, dass man neben diesen Leuten aus dem Widerstand, die da ihre Kontur gewonnen haben, nicht völlig abfällt in der Meinung der anderen Parteimitglieder und der Öffentlichkeit.

    Meurer: Um jetzt mal auf die Fakten einzugehen. Es ist die Rede davon oder es gab einen schriftlich ausgefüllten Fragebogen von Stanislaw Tillich, den er 1999 ausfüllen musste, bevor er in das Kabinett von Kurt Biedenkopf eintrat als Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten. "Der Spiegel" sagt, da hat er nicht alles gesagt. Noch kennen wir nicht genau den Fragebogen. Wenn er seine Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Kreises Kamenz verschwiegen hätte, was würde das für Sie bedeuten?

    Gauck: Nein, das hat er ja nicht verschwiegen, sondern das ist nach meiner Kenntnis gesagt worden. Die Wortwahl hätte vielleicht etwas deutlicher sein sollen. Er ist eben einer von mehreren Stellvertretern gewesen. Das kommt in der Debatte auch nicht heraus und das hatte ich ja eben ausgeführt, wo auch hier der eigentliche Schwerpunkt gewesen ist. Die Sache mit der Parteischule scheint sich inzwischen als falsch herauszustellen.
    Für mich ist sehr interessant, dass die Milieus, die seinerzeit an Belastungen etwa von Manfred Stolpe oder Gregor Gysi – das waren ja nun Stasi-Probleme, die diese Menschen hatten – weniger gefunden haben, dass diese Milieus ausgerechnet diese Problematik in der Block-CDU, die nun wirklich die dritte Geige spielte, heute für besonders besprechenswert und interessant halten.

    Meurer: Wieso, Herr Gauck, soll sich das mit dem Lehrgang erledigt haben? Stanislaw Tillich soll zwei Monate lang in Potsdam gewesen sein.

    Gauck: Das mit dem Potsdamer Lehrgang nicht. Das wird wahrscheinlich zu den Erfordernissen der Karriere im Rat des Kreises gehört haben. Wenn es so war, soll er das offensiv beschreiben und nicht verschweigen. Wenn das gefragt wäre und er es verschwiegen hätte, wäre das ein Punkt, darüber muss man sprechen bei einer führenden Kraft in der Politik. Aber dann kam auch sehr schnell, dass er auf der CDU-Parteischule war. Das stellt sich inzwischen offensichtlich ja als ein Irrtum oder eine Fehlinformation heraus, und da muss man auch genauer hinschauen.

    Meurer: Dass der Ministerpräsident beruflich Stasi-Kontakte hatte, was waren das Ihrer Ansicht nach für Kontakte?

    Gauck: Ein Mann wie er ist als Abgeordneter wie als Minister sicher mehrfach überprüft worden. Wenn eine Stasi-Belastung vorgelegen hätte? Eine Belastung liegt dann vor, wenn man in der Stasi als inoffizieller Mitarbeiter geführt wird. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Sonst würde das Problem noch mit einer ganz anderen Vehemenz besprochen werden. Dass Stasi-Leute zu einem kamen in solch einer beruflichen Situation, das konnte einem sogar als Pfarrer passieren.

    Meurer: Die haben sich dann auch vorgestellt als Herren von der Stasi?

    Gauck: Ja. Die haben sich dann vorgestellt und haben gesagt, um welches Problem es ging. Ein solcher Kontakt begründete keine inoffizielle Tätigkeit. Das konnte im Grunde jedem passieren, ob man in der Kultur, im Sport oder in der Kirche war. Bei einigen war das ein Trick, eine inoffizielle Tätigkeit zu beginnen, aber in anderen Bereichen ging es tatsächlich – die Stasi war auch Ermittlungsorgan – um die Ermittlungen. Deshalb ist nicht jedes Gespräch auch Teil einer Zusammenarbeit, einer inoffiziellen Zusammenarbeit. Das darf man hier wohl vernachlässigen.

    Meurer: Wenn kleine Beamte, Herr Gauck, falsche Aussagen gemacht haben, bevor sie einen Posten in den neuen Bundesländern angetreten haben, droht ihnen die Kündigung. Ist das im Fall Tillich jetzt auch so?

    Gauck: Nein. Das ist der Punkt, der in der ganzen Sache auch besprechenswert ist, wenn es so ist, dass hier eine falsche Aussage gemacht worden wäre. Das kann ich aber nun nicht nachvollziehen und das scheint mir nicht besonders deutlich zu sein.

    Meurer: Aber wenn es so wäre, muss er zurücktreten?

    Gauck: Wenn es so wäre, dann würde zumindest eine Sanktion im Bereich des möglichen sein. Das muss dann verhältnismäßig sein. Eine schlichte Lüge würde wohl für ihn ein großes politisches Problem bringen. Wenn nur eine bestimmte Sache geschönt ausgedrückt würde, dann würde es vielleicht mit der Entschuldigung gehen. Ich wundere mich im Ganzen, dass er sich nicht offensiver verteidigt, denn das, was ich bisher sehe, erscheint mir verglichen mit anderen Belastungen aus dem Raum der Politik eher weniger bedeutend zu sein.

    Meurer: Joachim Gauck, ehedem Beauftragter für die Stasi-Unterlagen, heute Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie". Herr Gauck, herzlichen Dank und auf Wiederhören.

    Gauck: Auf Wiederhören.