
Nach Bomben, Kugeln, Krankheiten und Vertreibung kommt nun der Hunger: Hilfsorganisationen beschreiben die Lage der Palästinenser im Gazastreifen inzwischen in drastischen Worten. Doch die Warnungen und Appelle verhallen: Israel räumt inzwischen zwar ein, dass es Hunger im Gazastreifen gibt, sieht die Schuld aber bei der Hamas. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie viele Menschen im Gazastreifen hungern?
Im Gazastreifen leben rund zwei Millionen Menschen. Wie viele an Hunger leiden, lässt sich nicht genau sagen, doch die Lage ist für die meisten Palästinenser sehr ernst.
Die Menschen in Gaza seien „wandelnde Leichen“, sagt Philippe Lazzarini, Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA). „Es ist tatsächlich die Hölle auf Erden“, sagt Martin Frick vom UN-Welternährungsprogramm. Er berichtet von ausgehungerten Menschen in größter Verzweiflung. Kinder brechen vor den Augen ihrer Eltern zusammen. Der Hunger entkräfte die Menschen, dadurch seien sie anfällig für Krankheiten.
Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde im Gazastreifen gibt an, insgesamt seien bereits 111 Palästinenser wegen Hunger ums Leben gekommen. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
UNRWA zufolge leidet jedes fünfte Kind in Gaza unter Mangelernährung. Die Zahl der Fälle steigt täglich. Laut WHO wurden allein in der ersten Jahreshälfte 2025 über 19.000 Kinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren wegen Unterernährung behandelt, im Durchschnitt über hundert Kinder pro Tag. Seit Anfang des Jahres sollen mindestens 21 Kindern unter fünf Jahren durch Mangelernährung gestorben sein.
Wie ist die Versorgungslage?
Die israelische Regierung räumt den Hunger in Gaza ein, gibt aber der Hamas die Schuld. Die Terrororganisation versuche, die Verteilung von Hilfsgütern an die Bevölkerung zu verhindern, kapere Hilfstransporter und verkaufe die Waren zu horrenden Preisen an Händler weiter. Mit dem Geld bezahle die Hamas dann ihre Kämpfer.
Laut UN sind von Mitte Mai bis Mitte Juli mehr als 1.600 Lastwagen mit UN-Hilfsgütern genehmigt worden, deren Inhalt hätte verteilt werden können. Das seien nicht einmal 30 Lastwagen pro Tag. Um die grundlegendsten Bedürfnisse zu decken, sind laut dem UN-Nothilfebüro (OCHA) aber mehr als 600 bis 650 Lkw pro Tag nötig. Ein israelischer Regierungssprecher sagte, zwischen dem 19. und 22. Juli seien mehr als 4.400 Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gefahren.
Was sind die Gründe für den Hunger?
Ein Großteil des Gazastreifens ist zerstört und für Zivilisten gesperrt, es gibt zu wenig Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Nur wenige Hilfsgüter der Hilfsorganisationen erreichen die Menschen.
Laut UN-Welternährungsprogramm stehen über 140.000 Tonnen Lebensmittel rund um den Gazastreifen bereit. Damit könnte man die Menschen in Gaza zwei Monate lang komplett versorgen, so Martin Frick, Leiter des Berliner Büros. Die Lieferungen könnten die Menschen aber nicht erreichen, weil sie blockiert würden.
Ein Sack Weizen für 500 Dollar
Martin Mogge von der Welthungerhilfe bestätigt die Lage: „Das Problem liegt beim Zugang, nicht beim Mangel an Hilfsgütern.“ Die Preise für Lebensmittel seien massiv gestiegen. Für einen Sack Weizen von 25 Kilogramm zahle man über 500 Dollar. Das Wasser, das die Welthungerhilfe bringe, reiche nicht für alle. Es gebe nur noch eine funktionierende Entsalzungsanlage und der Treibstoff dafür sei knapp.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) darf seit geraumer Zeit nicht mehr auf israelischem Staatsgebiet tätig werden. Ein entsprechendes Gesetz verabschiedete das israelische Parlament im Oktober 2024. Damit wurde die Arbeit der UN-Organisation in den Palästinensergebieten extrem beschnitten, denn Israel kontrolliert die Grenzübergänge dorthin.
Israel wirft UNRWA vor, einige seiner Mitarbeiter seien direkt am Terror beteiligt gewesen, so auch an dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel. Das Hilfswerk leistete seit 1949 Hilfe für palästinensische Flüchtlinge in Gaza.
Welche Rolle spielt die „Gaza Humanitarian Foundation“?
Seit Ende Mai soll die neu gegründete Gaza Humanitarian Foundation (GHF) Hilfsgüter im Kriegsgebiet verteilen. Über die private Stiftung ist wenig bekannt, unterstützt wird sie von den USA. Zunächst hatte sie ihren Sitz in Genf, nun ist sie aber „ohne Domizil“. Der ehemalige geschäftsführende Direktor der Stiftung, der US-Militärveteran Jake Wood, trat im Mai zurück mit der Begründung, es sei nicht möglich, die geplanten Einsätze nach humanitären Grundsätzen durchzuführen.
Die Hilfe der Gaza Humanitarian Foundation sei „vollkommen unausreichend“, sagt Martin Mogge von der Welthungerhilfe. Die Stiftung sollte eigentlich die humanitäre Hilfe besser organisieren, woran aber Vereinte Nationen und Hilfsorganisationen starke Zweifel haben. Diese werfen der GHF vor, etablierte Hilfsverteilungsnetze zu untergraben und gegen internationale humanitäre Prinzipien zu verstoßen. Kritisiert wird auch, dass die Stiftung ihre Verteilzentren ausschließlich im Süden des Gazastreifens hat und nicht überall, wo die Menschen Lebensmittel brauchen.
Außerdem setzt die GHF Militär bei der Verteilung ein. So kam es immer wieder zu Gewalt. Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros sind bereits mehr als tausend Menschen getötet worden, als sie versuchten, an Lebensmittel zu kommen. 766 seien nahe den umstrittenen Verteilzentren der GHF umgekommen, andere in der Nähe von Hilfskonvois, die oft von Verzweifelten gestürmt würden.
Israels Militärstaatsanwaltschaft ermittelt einem Zeitungsbericht zufolge nach den Vorfällen an den Verteilzentren wegen möglicher Kriegsverbrechen. Es soll geprüft werden, ob israelische Soldaten dort gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen und auf Zivilisten geschossen haben.
"Die Palästinenser zahlen den höchsten Preis"
„Ärzte ohne Grenzen“ nennt das Programm ein „als humanitäre Hilfe getarntes Massaker“ und fordert, es zu beenden, zu den Verteilmechanismen unter Aufsicht der Vereinten Nationen zurückzukehren sowie die Blockade des Gazastreifens aufzuheben. Auch Amnesty International verurteilt die Arbeit der Stiftung: „Die Operationen der GHF sind ein völliger Fehlschlag, und die Palästinenser zahlen den höchsten Preis.“
Ähnlich äußert sich die Welthungerhilfe: „Jede Art von Gewalt in der Nähe von humanitärer Verteilung ist völlig inakzeptabel“, sagt Martin Frick. „Humanitäre Hilfe ist immer unbewaffnet. Wir wollen keine Waffen und Soldaten in der Nähe unserer Transporte haben.“
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